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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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jemanden geben, den wir verklagen können.
    Jedenfalls waren wir der Überzeugung, dass Seán Geld verdiente. Dann stellte sich heraus, dass er Geld verlor. Aber es fühlte sich trotzdem gut an.
    Allerdings glaube ich nicht, dass die Bäder ihm zusagten. »Erinnert zu sehr an Midnight Express «, meinte er und bezog sich auf den türkischen Knastfilm aus den Siebzigern. Wir unterhielten uns den ganzen Abend und blieben zu lange in der Hotelbar, und als er einschlief, hatte er noch die Fernbedienung in der Hand.
    »Draußen am Flughafen gibt’s ein Ibis.«
    Jetzt hat er eine dritte Tasche aus der Tiefe des Kleiderschranks gezerrt; eine Bally-Kopie, die er aus Schanghai mitgebracht hat. Das Bett ist mit Reisegepäck bedeckt.
    »Nein, tu’s nicht«, sage ich. »Übernachte in der Stadt.«
    Und er steht da und betrachtet das Ganze.
    »Gott, ist das kalt.«
    Er patscht zum Schrank hinüber und kommt mit leeren Händen zum Bett zurück. Dann greift er sich die sauberen Sportsachen aus der Tasche und sagt »Scheiß drauf, ich komme einfach noch mal zurück«. Und macht Anstalten, seinen Trainingsanzug anzuziehen.
    Seáns Beine sind weiß. An den Schienbeinen und den Waden sind die Haare abgescheuert – etwas, das mir nicht aufgefallen wäre, bis ich ihn eines Tages vor dem Spiegel sah, wie er sich verrenkte, um nachzuschauen, so wie eine Frau nach verrutschten Nähten.
    »Ich geh kurz zum Sport.«
    »Viel Glück.«
    »Bin gleich wieder zurück.«
    »Ich bin dann auch weg«, sage ich. »Dundalk.«
    »Mach mich nicht neidisch.«
    Während ich noch im Bett liege, gibt er mir rasch einen Kuss.
    »Falls wir es überhaupt durch den Schnee schaffen«, sage ich.
    Und fort ist er. Kein Frühstück. Das Ratschen der Garagentür, als er sein Fahrrad hindurchschiebt.
    Vor dem Fenster Leere. Auf der Glasscheibe eine Wildnis aus vordringendem Eis. Der Geruch von Schnee.
     
    Inzwischen bin ich selbst zu spät dran. Eine Sekunde lang bleibe ich noch liegen, dann noch eine, und noch bevor er sich in den Verkehrsfluss auf der Templeogue Road eingefädelt hat, springe ich unter der Bettdecke hervor und gehe ins Bad.
    Ich drehe den Schaltknopf der Dusche, und während das Wasser sich erwärmt, knipse ich das Licht über dem Spiegel an und putze mir die Zähne.
    Ra-kling.
    Die Schnur – das kleines Plastik-Dingsda am unteren Ende ist abgesplittert und die Schnur darunter verknotet, um es festzuhalten – frisst sich vor lauter Knoten selbst und kriecht immer höher die Wand hinauf, am Faden selbst klebt alles, was menschliche Finger in zwanzig, dreißig Jahren hinterlassen haben, wenn wir an den Spiegel herantreten und an der Schnur ziehen. Ra-kling! Ich kenne das Geräusch so genau, ebenso die Stille, die darauf folgt, wenn wir das Bild begrüßen, das uns im Glas begegnet, und ihm widerstrebend zugestehen, wir selbst zu sein.
    Kennst du mich noch?
    Nein.
    Der sauberste Ort im Haus, dieser Spiegel – wie er sich weigert, die Vergangenheit festzuhalten. Ich überlasse ihn der ausdruckslosen Betrachtung der gegenüberliegenden Wand, betrete die Duschkabine und ziehe die Tür zu. Dasselbe Leitungsrohr mit der sprühenden undichten Stelle am Ende, derselbe Brausenkopf. Aber neues Wasser, schön heiß.
    Das Handtuch mit dem Muster aus pinkfarbenen Rosen und minzgrünen Blättern ist fast so alt wie ich und noch immer flauschig. Aber die meisten Familiensachen sind verschwunden, und was davon übrig ist, benutze ich nur selten. Wir schlafen in Fionas früherem Zimmer, was abwegig erscheinen mag – aber weniger abwegig als mein eigenes Kinderzimmer, das neben dem Zimmer meiner Mutter liegt. Ihr altes Bett war auch einmal das Bett meines Vaters. Das Gästezimmer ist für Evie. So lieben wir uns nur in diesem einen Raum, der Rest des Hauses bleibt unangetastet. Ich benutze nur zwei Schubladen der Kommode, Seán nimmt die anderen beiden in Beschlag. Wir leben mit den Klängen des alten Radios meiner Mutter, unserer Laptops und eines klapprigen Fernsehers. Wir hinterlassen kaum Spuren.
    Überraschenderweise fällt es Seán leichter, da er lieber gar nichts besitzt als das Falsche – auch dies ist Teil seines Snobismus.
    »Sei doch nicht so ein Snob«, sage ich.
    »Wieso denn nicht?«, fragte er einmal, und ich antwortete: »Das macht so alt.«
    Ich liebe Seán. Ich bin in Seán verliebt. Ich quäle ihn nur, damit er an meiner Seite bleibt. Die Manschettenknöpfe sind passé, die Ray Bans liegen vergessen im Handschuhfach. Inzwischen radelt er zur

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