Anatomie einer Affäre: Roman
das?«
»Das bedeutet, dass er ein stinkreicher Post-Punk-Rechtsanwalt ist.«
»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Da geht’s mir doch gleich viel besser.«
Wenn ich heute darüber nachdenke, habe ich den Verdacht, dass er etwas wusste, was wir nicht wussten. Ich habe den Verdacht, dass sie alle es wussten, es aber noch nicht eingestehen konnten, nicht einmal sich selbst. Im Juli sprachen wir mit einem Immobilienmakler, und das Testament musste immer noch bestätigt werden; da er aber meinte, der Zeitpunkt sei günstig für den Herbstmarkt, boten wir das Haus in der ersten Septemberwoche zum Verkauf an, ob es uns nun gehörte oder nicht. Am Mittwoch wurde es im Internet inseriert, am Donnerstag in der Immobilienbeilage. Wir lehnten uns mit dem Gefühl zurück, etwas außerordentlich Schwieriges und Bedeutendes geleistet zu haben. Wir wollten von dem Haus nicht lassen.
Jetzt wollen wir’s.
An diesem verschneiten Morgen folge ich der Spur meiner Mutter durch die Küche, und ich bin dankbar dafür. An manchen Tagen fühlt es sich gar nicht mehr an wie das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich vergesse, dass es mir gehört, wenn auch nur zur Hälfte. Das hätte ich meiner Schwester sagen sollen, als wir uns noch anbrüllten. Ich werde nur in der einen Hälfte wohnen . Obgleich ich nicht dort wohne, wie wir wissen. Ich erhalte das Haus nur in besichtigungsfähigem Zustand.
Inzwischen ist der meiste Kleinkram sortiert und entweder auf dem Müll gelandet oder bei einer karitativen Einrichtung, bei Fiona oder drüben in Clonskeagh. Die Gegenstände haben wir höchst liebevoll aufgeteilt. Nein, das nimmst du. Nein, du . Diese albernen kleinen Stücke Stoff, die nie wieder jemand tragen wird, ein brauchbarer Dreifach-Dampfgarer, ein paar abstrakte Ölgemälde, die »1973« kreischen.
Hin und wieder entdecke ich etwas, das wir übersehen haben. Nach Seáns Einzug (obgleich er nie richtig »eingezogen« ist) fand ich ein Foto, das hinter eine Kommode gerutscht war, ein großes Schwarz-Weiß-Foto auf Hochglanzpapier von unseren Eltern, wie sie vor dem Kontrollturm des Dubliner Flughafens stehen. Auf dem Weg wohin? Nach Nizza? Nach Cannes? Vermutlich nach Lourdes, mit einem Rosenkranz in ihrer Lackhandtasche, obwohl es ihnen gelang, selbst das fesch aussehen zu lassen, mit ihrem gehäkelten Hut und seinem flatternden Trenchcoat.
Ein anderes Mal – erst vor ein paar Monaten – entdeckte ich auf ihrem Kleiderschrank eine braune Stofftasche. Ich stieg auf einen Stuhl und holte sie herunter. Es waren Flaschen darin, das merkte ich an der Art, wie das Glas unter dem Baumwollstoff klackte und klirrte. Als ich die Zugschnur öffnete, fand ich einen leeren Flakon Tweed, ein Parfüm, das ich ihr geschenkt hatte, als ich noch auf die Grundschule ging. Außerdem gab es eine leere Flasche Givenchy III – die Originalmischung – und als Außenseiter eine halb volle Flasche Je Reviens. Ich öffnete den Flakon Tweed und hielt das kalte Glas vor meine Nase, in dem Versuch, Joan hervorzuzaubern. In diesen Dingen war Joan altmodisch – es war das Letzte, was sie anlegte, nach ihrem Schmuck und vor ihrem Mantel. Darum wird der Duft von Parfüm für mich stets der Duft meiner Mutter sein, wenn sie das Haus verlässt, wenn sie sich zu mir herabbeugt, um mich zu küssen, oder sich wieder aufrichtet – ein Mysterium. Dies waren die Abende, als Papa noch lebte und er sich für eine »Sause« im Burlo oder im Mansion House in seinen Smoking zwängte. Sie gingen dann immer zuerst für ein paar Drinks ins Shelbourne, und nach dem Dinner tanzten sie auf der parkettierten Mitte des mit Teppich belegten Bodens zu Elvis-Coverversionen und »The Tennessee Waltz«.
Um Mitternacht kamen sie dann nach Hause, sternhagelvoll.
Die Ausgehschuhe meines Vaters waren schwarz und glänzten. Bis heute sind sie mir als seine »Trinkschuhe« in Erinnerung. Einmal habe ich jemanden auf der Straße gesehen, der ihm sehr ähnelte. Vollkommen neben der Spur, aber eine tadellose Erscheinung. Die Sorte Trinker, der aufrecht steht – anständig und freimütig. Die Sorte Trinker, der gern »Zigeuner« oder »Landei« sagt und aussieht, als hätte er mehr und Triftigeres zu sagen, selbst wenn er sich so abgefüllt hat, dass ihm jede Artikulationsfähigkeit abhandengekommen ist.
Am Abend nach ihrem Tod hatte ich selbst zu viel Wein zu mir genommen. Nach dem Bestattungsunternehmer, den Telefonaten und den Vorkehrungen öffnete ich einen Weißwein von der Loire,
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