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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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schüttete ihn hastig hinunter und verspürte zweierlei. Das Erste, was ich verspürte, war überhaupt nichts. Das andere eine Empfindung, die derart künstlich und glatt war, dass ich sie loswerden wollte. Es war eine solche Lüge. Da war er nun – mein Vater. Nicht in einem Fremden, sondern in mir, die ich allein auf einem geraden Stuhl am Küchentisch saß und nur innehielt, um mich bei dem Wein dafür zu entschuldigen, dass er aus meinem Glas geschwappt war.
    Ich warf die Parfümflaschen in den Müll – diese holzigen, eleganten Düfte, die meine Mutter passend zum Geruch ihres Zigarettenrauchs und ihrer gelegentlichen Wodkanächte ausgewählt hatte. Vielleicht glauben Sie, dass ich diese letzten beweglichen Moleküle gern für immer festgehalten hätte, doch dem war nicht so. Ich wollte die Fenster öffnen, die Polster ausklopfen und den Geruch ihres Todes verjagen; die Stummel, die ich, auf Regenwasser treibend, im Gartenaschenbecher fand, den Gelbstich an den Zimmerdecken, den süßlichen alten Zauber von Je Reviens.
     
    Seán kam zur Beerdigung. Ich hatte nichts dagegen. Es hätte taktlos von ihm sein können, war es aber nicht. Vielmehr schien es einem verborgenen Rhythmus unseres Lebens zu entspringen, einem besseren Ort. Er trat in den Kirchenvorbau und umarmte mich. Seán sieht aus wie jemand, der zu beschäftigt ist, um fürsorglich zu sein, doch dann geschieht etwas, und er tut genau das Richtige. Vielleicht sind es die ländlichen Sitten, die da in ihm zum Vorschein kommen – oder sein Vater, der Bankdirektor, der den schmalen Grat zwischen gut gemeint und gut gemacht kannte. Seán machte es gut. Die einzige öffentliche Geste zwischen uns. Die einzige rituelle Berührung: seine Hand auf meiner Schulter, seine Hand auf meinem Rücken, eine einarmige Umarmung, sein Gesicht in meinem Haar. »Du Arme«, sagte er. »Arme Gina.« Und hielt nicht inne, um mir in die verweinten Augen zu schauen oder um sich an dem Kummer in meinem Gesicht zu laben, sondern trat zu Fiona, um auch diese zu umarmen, und ging dann davon. Die gesamte Abfolge war zeitlich genau abgestimmt und stand in Einklang mit dem, was wir geworden waren: alte Kameraden im Krieg der Liebe.
    Meine Augen waren ohnehin nicht verweint. Die meiner Schwester auch nicht. Wir sind beide nicht der Typ, der weint. Wir sind der Sonnenbrillentyp. Wir sind die Sorte Frau, die von einem Begräbnisgottesdienst kommt und von ihrer Grundierung spricht.
    »Ist da ein Rand?«, sagte ich zu Fiona und deutete auf die Unterseite meines Kinns. Sagte es und meinte es. Und Fiona, die sofort begriff, sagte: »Ein klein wenig. Nur da. Es geht schon.«
    Also war zumindest mein Make-up perfekt, als sie den Sarg meiner Mutter in den Leichenwagen luden und Seán uns im Maiensonnenschein kondolierte. Ich sah ihm nach, wie er davonging – man könnte sogar sagen: davontrabte –, ein furchtbar beschäftigter kleiner Gnom in einem blassen Sommeranzug, die Hand nach einem Taxi ausgestreckt, sobald er den Straßenrand erreichte.
    Dann umarmte ich die nächste Person.
    Über Conor beim Begräbnis kann ich nicht reden. Er war großartig. Conor ist großartig, das kann Ihnen jeder bestätigen. Er machte alles richtig. Außer vielleicht, dass er alle fünf Minuten auf sein verdammtes Handy schaute.
    »Sag bloß, das Ding ist online«, sagte ich.
    »Aber hallo!«, sagte er. Dann blickte er zu mir auf, und als ihm bewusst wurde, wo er sich befand, geriet er ins Stocken.
    Er trug seinen schwarzen Anzug, der ihm längst zu eng geworden war, den einzigen Anzug, den er besaß und in dem er geheiratet hatte. Dieselbe Kirche, derselbe Vorbau, nur etwas später im Jahr; die abgefallenen Kirschblüten wehten jetzt gegen die Stufen und verfärbten sich braun.

How Can I Be Sure
     
    Einige Wochen später rief Seán an, um zu hören, ob ich »okay« sei. Ich sagte, ich sei nicht wirklich »okay«, und lachte. Er meinte, er kenne einen guten Typen, falls wir beim Verkauf des Hauses Hilfe brauchten.
    » Falls ihr das Haus verkaufen wollt.«
    »Ach, weißt du«, sagte ich. Ich verriet ihm nicht, dass ich im Haus schlief oder an einigen Tagen nachmittags dort schlief. Wie gesagt, man hätte annehmen sollen, dass die Räume etwas verblasst wären, aber all ihre Sachen waren noch genauso, wie sie es liebte. Und als ich eines Tages zurückkam – wieder so ein Tag, an dem Fiona unabkömmlich war –, legte ich nur für einen Moment die Füße aufs Sofa und wachte erst bei Einbruch der Dunkelheit

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