Anatomie einer Affäre: Roman
unerträglich und draußen jenseits aller Vorstellungskraft.
Gegen zwei Uhr fuhr ich schließlich in die Stadt, wo ich mein Auto in einem absoluten Halteverbot abstellte. In den Fenstern des Shelbourne konnte man das respektable Treibgut beobachten, wie es beim Hoteltruthahn zulangte oder die Köpfe hob, um auf die verlassenen Straßen hinauszublicken. Ich ging am verschlossenen Tor von Stephen’s Green vorbei, hinunter in den leeren Schlund der Grafton Street, wo die starren Schaufensterpuppen auszurufen schienen: Heute! Heute ist der Tag! Wenn ich in der Straße zusammenbräche, würde mich bis zum Morgen niemand finden. An der Mauer des Trinity College passierte ich ein hochgewachsenes Paar, das wie Touristen aussah. Als ich vorbeiging, wandten sie mir die Gesichter zu und tönten: Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten , und in aller Schärfe spürte ich die Schande. Es gab mich nicht. Am Ende würde ich Fenster einschlagen, nur um zu beweisen, dass ich existierte. Ich würde seinen Namen rufen: den Namen meines Liebsten, der nicht riskieren konnte – er konnte es nicht riskieren! –, zu simsen oder anzurufen.
Natürlich zerbrach ich keine Fenster. Ich ging zum Auto zurück und fuhr nach Hause. Als ich mein Handy nachprüfte, fand ich eine Nachricht von Fiona. Sie lautete: »Frohe Weihnachten, xxxxxx dein Schwesterlein«, und das brachte mich zum Weinen.
Gegen sieben Uhr kam doch noch eine SMS von Seán. Er schrieb: »Schau in den Schuppen.« Dort fand ich einen Strauß Rosen und eine schlanke Flasche kanadischen Eisweins. Und obwohl ich eigentlich nicht mehr trinke, leerte ich schließlich doch die ganze Flasche und ließ dem letzten süßen Tropfen noch eine schädelspaltende Dosis Whiskey folgen. Nichts davon war das Richtige. Es gibt den idealen Drink, aber irgendwie ist es nie der, den man in der Hand hält. Trotzdem fuhr ich fort, bis ich ruhig und leer und rein war. Am nächsten Tag hatte ich Sorge, ob ich, als ich dort saß, ein Geräusch von mir gegeben hatte; irgendein blökendes schmerzliches Wehklagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich stumm blieb und dass es mir, als der Tag vorüber und die Weihnachtszeit gemeuchelt war, gelang, mich halbwegs würdevoll zu erheben, mich umzudrehen und ins Bett zu gehen.
Am zweiten Weihnachtstag erwachte ich mit hochverdienten Kopfschmerzen, stieg nach einem Frühstück aus Tee und Plumpudding ins Auto und fuhr im Schneckentempo zum Haus meiner Schwester in Enniskerry. Während der Fahrt weinte ich ein bisschen und schaltete aus Versehen die Scheibenwischer ein. Ich rief vorher nicht an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Als ich ankam, war es drei Uhr, und in der Luft lag bereits Dunkelheit. Ich parkte einen Moment lang vor dem Haus und erblickte kein Lebenszeichen, aber im Wohnzimmer war mein Neffe Jack, und bevor ich Gelegenheit hatte anzuklopfen, öffnete er schon die Tür. Er starrte mich von oben bis unten an und schien sich zu fragen, wie er damit umgehen sollte, dass es mich wirklich gab. Dann entschied er sich für Gleichgültigkeit.
»Hey«, sagte er.
»Hey, Jack.« Er hing an der Seite der Tür und fixierte mich durch den Spalt.
»Wo ist deine Mama?«
»Die ist oben und kuschelt.«
»Aha.«
Es schien nicht sehr viel zu geben, was ich darauf entgegnen konnte, aber da hatte er sich auch schon umgedreht und war wieder ins Wohnzimmer zurückgerannt. Die Tür stand noch offen, und so schob ich mich in die Diele und machte sie leise hinter mir zu.
»Und wo ist deine Schwester?«, fragte ich behutsam.
»Weg.«
»Und was treibst du so?«
»Ich schreibe ein Buch«, sagte er.
Er kniete im Wohnzimmer. Ich dachte, er würde mir mehr darüber erzählen, aber er ließ sich nur auf den Boden zurückplumpsen und zog die Seiten seines Schreibhefts in die Armbeuge. Er streckte die Zunge aus dem Mundwinkel und schrieb, den Po in die Luft gereckt, die Wange auf die Seite gelegt, die Augen nur Zentimeter von der wandernden Kulispitze entfernt.
Es kam mir vor, als hätte ich sehr lange dagesessen und ihn beobachtet. Das Haus war vollkommen still. Ich wollte ihm gerade weitere Fragen stellen, da hörte ich jemanden herunterkommen und in den hinteren Teil des Hauses gehen. Durch die Verbindungstür sah ich, dass es Fiona war. Sie trug ihren Bademantel und wirkte, wie ich fand, ausgesprochen entspannt, fast könnte man sagen: »erquickt«. Sie stellte den Wasserkocher an, dann erblickte sie mich und bekam einen Schreck.
»Seit wann bist du denn
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