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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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vier Jahre alt war, fiel sie von der Schaukel, und Aileen ohrfeigte das Au-pair-Mädchen, und Seán, als er nach Hause kam, steckte seiner Tochter den kleinen Finger in den Mund, um herauszufinden, wo sie sich innen in die Wange gebissen hatte. Er prüfte ihre Pupillen.
    »Sieh mich an, Evie. Jetzt schau nach oben, zum Licht.«
    »Ich hab meinen Schuh verloren«, sagte sie.
    Also ging er hinaus in die Dämmerung und fand den glitzernden kleinen Ballettschuh neben der Schaukel. Die Hacke war mit Lehm beschmiert, und am Absatz klebte noch ein kleines Rasenstück.
     
    Nach Fionas unbarmherziger kleiner Anekdote in der Küche stellte ich eine Zeit lang alles, was zwischen mir und Seán geschehen war, infrage – bis hin zu unserer Bettenwahl. Ich glaubte, entscheidende Details übersehen zu haben; ich hatte die Zeichen nicht richtig gedeutet. Falls die Liebe eine Geschichte ist, die wir uns erzählen, dann hatte ich den Plot nicht richtig hingekriegt. Oder vielleicht ist Leidenschaft einfach, und zwar immer, eine starrsinnige Angelegenheit.
    Inzwischen glaube ich, dass ich die Geschichte nur dann richtig erzählen kann, wenn ich herausbekomme, was Evie zugestoßen ist. Wenn ich darüber nachdenken und es verstehen kann, wird es mir möglich sein, Seán zu verstehen und seinen Kummer zu lindern.
     
    An dem Abend, als Evie von der Schaukel gefallen war, saßen sie mit dem erschöpft lächelnden Kind im Wartezimmer des Hausarztes, und sie wandte sich an ihren Vater und fragte: »Bin ich gestorben?«
    »Sei nicht albern«, sagte er. »Sieh dich an, du bist quicklebendig!«
    Der Arzt, der einen ausgeprägt englischen Akzent hatte, stellte sich als »Malachy O’Boyle« vor – ein irischer Name, der so erfunden klang, dass Aileen später sagte: »Der war garantiert unecht.« Er setzte Evie auf seine Untersuchungsbank und bat sie, sich hinzulegen. Er tastete ihren Hinterkopf ab, untersuchte ihre Pupillen und sämtliche Vitalfunktionen, während er Aileens klarer, erregter Schilderung der Vorgänge am Nachmittag lauschte und sie zugleich ignorierte.
    »Hatte sie erhöhte Temperatur?«
    »Nein.«
    »Sind Sie sicher?« Worauf Aileen verstummte, denn natürlich war sie nicht dabei gewesen.
    »Also, Evie«, sagte er, nachdem er mit der Mutter fertig war. »Nun erzähl mir mal, was passiert ist.«
    »Ich bin von der Schaukel gefallen«, sagte sie.
    »Sonst noch was?«
    »Nö.«
    »Braves Mädchen«, sagte er. »Ist irgendetwas passiert, bevor du gefallen bist? Worauf hast du geschaut?«
    Sie warf ihm einen scharfen, misstrauischen Blick zu und sagte: »Auf die Wolken.«
    »Waren es schöne Wolken?«
    Evie gab keine Antwort. Aber sie wandte den Blick nicht von ihm ab, weder in diesem Augenblick noch später, und als er ihr am Ende der Konsultation einen Lutscher anbot, sagte sie: »Nein, danke«, was aus ihrem Mund wie eine schwere Beleidigung klang.
    Malachy O’Boyle lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und erklärte ihnen auf seine lässige nasale Art, dass Evie sich den Kopf gestoßen habe und bald wieder wohlauf sein würde. Es sei seiner Ansicht nach jedoch auch möglich, dass sie etwas erlitten habe, einen Krampf oder einen Anfall – etwas, das die Leute früher Fallsucht genannt hätten. Er sei sich keineswegs sicher, und selbst, wenn es so wäre, würden die meisten Kinder, die davon betroffen seien, keinen zweiten erleiden. Er wolle sie nur darauf aufmerksam machen. Damit sie ein Auge auf sie hätten.
    Sie verließen das Besprechungszimmer und zahlten der Rezeptionistin fünfundfünfzig Euro. Dann gingen sie zum Auto. Aileen sagte: »Wir fahren zur Notaufnahme.« Sie war bleich und zitterte neben ihm auf dem Beifahrersitz. Seán sagte: »Es ist Freitagabend.«
    Aber sie fuhren zur Notaufnahme, und dort saßen sie viereinhalb Stunden lang, nur um an ein übermüdetes Mädchen in einem weißen Kittel zu geraten, das ziemlich genau das wiederholte, was der unechte irische Doktor gesagt hatte. Das Mädchen, das aussah wie sechzehn, wehrte jegliches Gerede über Anfälle und Kernspinuntersuchungen ab, willigte jedoch ein, Evie zur Beobachtung dazubehalten, wofür allerdings nur eine Krankenliege zur Verfügung stehe. Und so saßen sie da, schritten auf und ab oder standen neben der Liege, auf der Evie den köstlichen, herzzerreißenden Schlaf eines Kindes schlief, während das freitagnächtliche Dublin um sie her flennte, blutete und fluchte (und das waren nur die Pförtner, wie Aileen scharfzüngig bemerkte). Sie teilten

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