Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
Vom Netzwerk:
sich einen Plastikstuhl. Von Zeit zu Zeit beugte Seán sich über das Fußende der Matratze seiner Tochter, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und taumelte in einen jeweils dreißig Sekunden langen Schlaf.
    Kribbelig vor Müdigkeit harrten sie aus, bis um zehn Uhr morgens ein wichtiger aussehender Arzt vorbeifegte, das metallene Klemmbrett studierte, nacheinander Evies Augenlider hochzog und ihnen allen unter munterem Geplänkel die Genehmigung erteilte, nach Hause zu fahren. Sie hatten keine Ahnung, wer er war – er hätte, wie Aileen später betonte, ebenso gut ein verkleideter Raumpfleger sein können –, doch in diesem Stadium waren sie gefügig, dankbar, beinahe kreatürlich. All ihre normale menschliche Kompetenz hatte sich verflüchtigt. Die Regeln hatten sich geändert.
    Während der nächsten Zeit schwankte Aileen zwischen Tüchtigkeit und Nutzlosigkeit. Sie tyrannisierte, oder sie erstarrte – dazwischen gab es nichts. Nach vielen langen Nächten auf diversen Websites war sie überzeugt davon, das etwas Ernstes vorlag. Bevor sie von der Schaukel fiel, hatte Evie monatelang – vielleicht ein Jahr lang – im Schlaf geweint, und manchmal hatten sie sie verwirrt auf dem Boden ihres Schlafzimmers vorgefunden. Aileen schleppte das Kind zu drei verschiedenen Hausärzten (laut Seán war sie das medizinische Pendant zu einer Eislaufmutter), bis sie eine Überweisung zu einer Kinderneurologin mit zweimonatiger Warteliste erhielt. An dem betreffenden Abend knallte sie sich zum ersten Mal, seit er sie kannte, mit Champagner die Birne voll.
    Das Au-pair-Mädchen unterdessen verließ nicht einfach das Haus, sie stürmte geradezu hinaus, und obwohl sie dringend ein neues Au-pair benötigten, zauderte Aileen bei dem Gedanken, noch einmal bei der Agentur anzurufen. Sie nahm sich halbe Tage frei, und bisweilen nötigte sie Seán, sich die andere Hälfte freizunehmen, sie rief Nachbarn an und engagierte Babysitter. Die Kinderbetreuung, die – jedenfalls, soweit es ihn betraf – bis dahin immer reibungslos funktioniert hatte, wurde zu einem unlösbaren Problem. Es war, als wolle sie gar nicht, dass sie funktionierte – zu dieser Erkenntnis gelangte er eines Tages, als die Übergabe fehlschlug und sie ihn am Telefon anschrie: »Du hast zwei Uhr gesagt, aber drei Uhr gemeint. Wie viele Lügen sind das? Wie viele Lügen stecken in einer ganzen beschissenen Stunde?«
    Später sagte sie, das schlechte Gewissen und die Sorge hätten sie überwältigt. Sie wolle einfach nur die ganze Zeit bei Evie bleiben.
    Und Seán sagte: »Aber es geht ihr gut.«
    Es geschah während des Frühstücks. Morgens war Evie immer die reinste Freude – »Man steckt sie schreiend ins Bett«, sagte Seán, »und wenn sie aufwachen, sind sie wie ausgewechselt.« Gewöhnlich setzte sich Evie bei Tagesanbruch im Bett auf und las in einem Buch oder unterhielt sich einfach mit den Illustrationen. Wenn der Wecker läutete, stand sie auf, um zwischen ihre erwachenden Eltern zu schlüpfen. Sie redete ununterbrochen, sie wanderte umher und schwatzte und war abgelenkt. Ihre Vormittage waren mit holdem Vergessen angefüllt: Sie schaute in ihren Schrank und vergaß, sich anzuziehen; sie half bei der Zubereitung ihres Haferbreis und ließ ihn dann kalt werden; sie machte Anstalten, aus dem Haus zu gehen, noch ehe sie ihre Schuhe gefunden hatte.
    An diesem Morgen vernachlässigte sie ihren Haferbrei zugunsten einer schwarz-weißen Stoffhenne, die sie gluckend und gackernd über den Tisch tanzen ließ. Mittendrin verdrehte sie die Augen und glitt zu Boden. Seán beobachtete sie etliche Sekunden lang, bevor er den Versuch unternahm, zu begreifen, was vor sich ging. Evie rüttelte und schüttelte sich unter dem Tisch. Ihre Augen waren geöffnet und starr. Sie blickte nicht ihn an, sondern die Wand hinter ihrem Kopf, und was Seán im Nachhinein verstörte, war der sanfte, nachdenkliche Ausdruck, den er in ihren Augen wahrnahm, wie jemand, der die Idee des Schmerzes untersucht. Ihre Hände waren geballt, ihr rechter Fuß klopfte oder trat aus, und ihm schien, als protestiere ihr gesamter Körper gegen den Verrat ihres Hirns und kämpfe darum, die Kontrolle wiederzuerlangen. Er wusste, dass er es sich nur einbildete, doch nichts konnte Seán davon überzeugen, dass dieses ganze Schattenspiel lediglich eine Abfolge von Krämpfen war. Evie gab zarte, wimmernde Laute von sich, so winzig und verständnislos wie damals, als sie noch ein Neugeborenes war, und ihr

Weitere Kostenlose Bücher