Anatomie einer Affäre: Roman
geht?« Hier gab es nur zwei Arten von Menschen: solche, die freundlich waren, und solche, die sich verlaufen hatten. Sie fassten sich bei den Händen. Nie waren sie einander näher gewesen als hier, auf dem Weg zur Schwingtür des Kinderkrankenhauses und hinaus ins Tageslicht.
Während der nächsten paar Monate kauften und mogelten sie sich an die Spitze der Wartelisten, und alles im Haus richtete sich nach Evies Arztterminen. Sie erhoben sich im Morgengrauen, wickelten sie in eine Decke und trugen sie zum Auto. Seán fuhr, während die Dämmerung an den Hügeln herabglitt und den Kessel der Dubliner Bucht mit bleichem Dunst füllte und die Sonne weiß gewaschen vor ihnen aus dem Meer aufstieg. Im Krankenhaus angekommen, fühlte Evie sich erhitzt und feucht und köstlich an. Durch einen Korridor nach dem anderen trugen sie sie zum richtigen oder auch falschen Wartezimmer, wo freundliche Menschen (alle waren freundlich, alle ohne Ausnahme) ihre Formulare an sich nahmen oder sie weiterleiteten. So gingen sie weiter, blickten an jeder Tür durch die Glasscheibe, für den Fall, dass sie sich auf eine Station mit kahlköpfigen Kindern verirrt hatten oder mit Kindern, deren Narben zu groß für ihre kleinen Körper waren: all die hoffnungsvollen kleinen Missgeburten. Bald schon nahmen sie nicht mehr die Krankheiten der Kinder wahr, sondern die Kinder selbst, und auch das ängstigte sie: die Vorstellung, dass eine solche Verkehrung der Natur etwas ganz Alltägliches war. Sie sahen nicht die Eltern an, ihre eigenen Spiegelbilder. Niemals. Jedes kranke oder gar sterbende Kind – schön wie eine Blume – schien mit einer ungewaschenen Mutter verbunden zu sein, die auf dem Boden schlief, die vergessen hatte, sich den Haaransatz nachzufärben, und die wie ein Flüchtling aussah.
Nach den ersten paar Terminen sagte Aileen, es sei unsinnig, dass sie beide ihr Leben dort verbrachten, sie könne die Sache allein bewältigen. Dann, als die Untersuchungsbefunde negativ waren, hielt sie ihm sein Fernbleiben vor: »Du konntest ja nicht mal mit ins Krankenhaus kommen, du warst ja nicht mal da.«
Sie schrie ihn an, weil sie erleichtert war. Als die Diagnose erstellt wurde, fiel sie sehr schlimm oder sehr hoffnungsvoll aus – schwer zu sagen, welches von beiden. Dr. Prentice sagte, Evie werde aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Anfällen herauswachsen. Sie habe keinen Tumor, sie werde vermutlich nicht sterben – es sei denn plötzlich, ohne jeden Grund: im Schlaf, in der Badewanne, unter einem Auto oder im Wohnzimmer, falls sie einen Anfall erlitt, während sie neben dem Kamin stand. Es fehle ihr nichts, schien sie zu sagen, bis auf das, was ihr fehle. Die medikamentöse Behandlung wurde ihnen als eine Sache der Wahl präsentiert: Anfälle oder keine Anfälle, Sie entscheiden.
»Die meisten Leute«, sagte Dr. Prentice auf ihre freundlich-forsche Art, »wählen Letzteres.«
Die Tabletten verwirrten Evie – jedenfalls glaubte Aileen das. Stets war sie ein zufriedenes, geradezu fügsames Kind gewesen; jetzt hingegen war sie leicht frustriert und bekam Wutanfälle, selbst morgens – wenn sich all das holde Vergessen in etwas Unheilvolleres verwandelte. Aileen glaubte, dass Evie unter Halluzinationen litt.
»Meinst du?«, fragte Seán.
Es war schwer zu sagen. Das Kind zählte vier Jahre, es verbrachte den Tag in einem Zustand fortwährenden Fantasierens. Aileen sagte, dass sie auf der Straße jäh innehielt oder ohne jeden Anlass zusammenfuhr. Hin und wieder hob sie die Hand, als wische sie sich Spinnweben von den Augen. Sie sagte sonderbare Dinge. Aileen wusste nicht, ob es sich um eine Art Schatten jener Anfälle handelte, die inzwischen aufgehört hatten, oder ob es eine Nebenwirkung der Tabletten war, die sie einnahm, damit die Anfälle aufhörten. Seán glaubte insgeheim, es sei ein Symptom von Aileens Ängstlichkeit, doch beide lauschten Evies Geplapper mit größerer Aufmerksamkeit.
Nach Monaten der Gereiztheit und der Sorge, nach Hunderten von Stunden im Internet beschloss Aileen, Evies Medikamente abzusetzen.
»Ich will mein kleines Mädchen zurück«, sagte sie.
Aileens Sorge war ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Sie hatte sich so lange und so heftig gesorgt, dass sie ihr über den Kopf gewachsen war und sich in geradezu rauschhafte Fürsorge verwandelt hatte.
»Das ist sie nicht mehr«, sagte sie. »Das ist nicht Evie.«
Seán wandte ein, dass das Kind erst vier sei. »Sie verändert sich mit jeder Minute«,
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