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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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sagte er. »Sie ist nie dieselbe. «
    Worauf Aileen entgegnete: Wie kann dir das entgehen?
    Also wurde Evie von ihren Tabletten entwöhnt, und als der Anfall einsetzte, stellte er nach so vielen Tagen des Wartens fast eine Erleichterung dar. Nach Tagen und Wochen ständiger Präsenz und Wachsamkeit, des Wartens auf das Knistern in ihrem Hirn, der Furcht vor den Schatten, wenn die Alleebäume die Sonne zum Flattern brachten. Riechst du etwas, Evie? Siehst du etwas? Woran denkst du, Evie?
    Es geschah in der Kinderkrippe, wo Evie jetzt ihre Tage verbrachte. Die Krippenleiterin schien nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Es war ein Zwischenfall. Sie hatte ihn bewältigt.
    »Ich hab sie einfach im Arm gehalten«, sagte sie. »Das arme kleine Würmchen.«
    Damit machte sie sich bei ihnen nicht gerade beliebt.
    »So eine Kuh«, sagte Aileen, denn nun hatte sich die Realität für sie ein weiteres Mal verschoben. Sie hatten jetzt eine Welt vor Augen, in der ein abwesendes, ruckelndes Kind zur Normalität gehörte. Ihr Kind. Ihre wunderschöne, allzeit gegenwärtige Evie.
    Es ist unbestreitbar, dass Aileen, die ansonsten vor allem rational war, sich nicht rational verhielt, als sie beschloss, diesen Unsinn ein für alle Mal zu beenden. Sie setzte Evie auf Diät. Es war eine medizinische Diät. Diese könne zwar nicht von dem Krankenhaus, das sie aufgesucht hatteen, überwacht werden, dafür aber von anderen Krankenhäusern, sagte sie, auch wenn sie üblicherweise Kindern vorbehalten war, die schlimmer dran waren als Evie.
    Es handelte sich um eine ketogene Diät – wie Atkins, nur merkwürdiger und strenger. Sie schien endlose, aber exakte Mengen Schlagsahne zu beinhalten. Kohlehydrate waren nicht erlaubt. Überhaupt nicht. Kein Apfel, keine Spur von Soße auf einer gebackenen Bohne. Ein Kartoffelchip, und das Kind würde sich mit Schaum vor dem Mund vor den nächsten Bus stürzen, keine Frage.
    Seán sagte, er hätte die Sache ausdiskutieren sollen. Oder mehr mit ihr – mit Aileen – reden sollen, damit sie sich nicht so alleingelassen fühlte. Aber er glaubte, dass die Sache eine Art Eigendynamik entwickelt hatte. Und Schlagsahne war ja nichts ganz so Schlimmes. Also ließ er sie gewähren.
    Die Diät schlug nicht an. Oder Evie hielt sich nie daran – außerdem hatte Seán den Verdacht, dass die Krippenleiterin sie aus Mitleid mit Kartoffelkringeln fütterte. Jeden Montag begannen sie von Neuem, und spätestens am Donnerstag ertappten sie Evie mit Zucker auf dem Atem. Aileen ging dann immer ins Nebenzimmer, um sich zu sammeln, und kam anschließend zurück, um Evie ins Gewissen zu reden.
    »Weißt du noch, dass wir über dein Gehirn gesprochen haben, mein kleines Dummerchen?«
    Eines Abends, nachdem sie hinter dem Sofa ein Nest aus Pfirsichkernen entdeckt hatte, stand Aileen da und weinte. Sie machten eine Versagerin aus ihrer Tochter, sagte sie; aus ihrer großartigen Tochter, die inzwischen eine permanente Enttäuschung war – und, was Nahrungsmittel betraf, eine versierte Diebin und Lügnerin. Und obwohl Aileen zusah, wie all dies geschah, wusste sie nicht, wie es zu beheben sei, und Seán konnte nichts tun, als außerhalb des Kreises zu stehen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, auch wenn nichts gut war. Es war unmöglich. Und es war ihre Schuld.
    In dieser Phase ihres Lebens, der ketogenen Phase, sah ich Seán zum ersten Mal. Er stand am Ende des Gartens meiner Schwester in Enniskerry. Ich weiß nicht, woran er damals dachte. Mag sein, dass er an Evie dachte oder an seine Arbeit oder an eine Frau im Büro. Mag sein, dass er die Aussicht bewunderte oder sich fragte, wie viel die Häuser zwischen Garten und Meer wohl wert waren. Mag sein, dass er sich nach meiner Schwester Fiona verzehrte, die so hübsch und so kummervoll ist. Oder dass er an gar nichts dachte. Wie Männer oft behaupten.
    »Was denkst du gerade?«
    »Weiß nicht. Nichts Besonderes.«
    Aber es war ziemlich klar, dass er nicht auf praktische Art und Weise an Evie gedacht hat, denn als sie hinter ihm auftauchte, hatte sich ein klebriger und sehr violetter Schmierfleck auf ihr kleines Gesicht gestohlen.
    Er sagte: »Mein Gott, Evie«, und seufzte. Er sah zu, wie Aileen das klebrige Zeug mit einer Papierserviette abrieb, dann blickte er zu mir hinüber.
    Natürlich kenne ich Evies Geschichte fast nur aus Seáns Perspektive, und ich weiß, dass Seán nicht immer die Wahrheit sagt. Oder dass er sich an die Wahrheit nicht erinnert. Seiner

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