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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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Mund sabberte und schnappte.
    Aileen hatte ihren Stuhl zurückgeschoben, um Platz für sie schaffen. Sie stand über ihrer Tochter. Dann bückte sie sich rasch, um ihren Kopf vor den harten Fliesen zu schützen.
    »Lass das«, sagte Seán, der eine vage Vorstellung davon hatte, dass Evie nicht berührt werden durfte.
    »Lass was?«
    Aileens Ruhe war fast unnatürlich. Sie hielt ihre Tochter bei den Schultern, dann ließ sie sich sanft auf den Boden gleiten, bettete Evies Kopf in ihren Schoß und langte nach oben, um sich mit der freien Hand an der Tischkante festzuhalten.
    Seán hatte dieses Bild mit großer Klarheit vor Augen: die unvorteilhafte Speckfalte zwischen ihrem Knie und ihrem Oberschenkel, und Aileen, die sonst so penibel war, mit speichelverschmiertem Rock. Unterdessen begannen Evies verkrampfte Hände langsamer zu pumpen, und ihre Lippen schienen beinahe blau.
    Sie atmet nicht mehr, dachte er.
    Evie krümmte sich wieder und wieder und hörte dann auf. Sie sah aus, als habe sie etwas vergessen. Dann, nach einem Augenblick großer Leere, sog ihr Körper raspelnd Atem ein. Dem folgte ein weiterer Atemzug. Aileen rubbelte und klopfte sie und gab dabei tröstende, winselnde Laute von sich, und es dauerte lange, bis das Kind wieder zu sich kam – oder möglicherweise dauerte nichts davon lange, möglicherweise spielte sich all das in sehr kurzer Zeit ab und fühlte sich nur endlos an, endlos und chaotisch. Evie war verwirrt, Aileen war verwirrt. Sie rief ihren Namen, rieb ihr den Rücken und die Arme. Und dann verlagerte sich etwas und rastete ein.
    Evie setzte sich auf. Sie brüllte. Sie befreite sich aus den einengenden Armen ihrer Mutter und rief die Welt empört zur Rechenschaft.
     
    Er war so stolz auf sie.
    Es gibt Zeiten, da Seán mir die Schuld am Scheitern seiner Ehe zuzuschieben scheint, aber daran, was Evie widerfuhr, gibt er mir nie die Schuld. Ich habe ihm alles während unserer Autofahrten in den Westen Irlands entlockt; hinter Limerick, auf den hübschen kleinen Sträßchen entlang dem Shannon: Pallaskenry, Ballyvogue, Oorla, Foynes. Zwischen den sonnenbesprenkelten Bäumen war der breite Fluss zu erkennen. Seán konzentrierte sich aufs Fahren, ich war schicklich gekleidet, wir saßen nebeneinander, und keiner blickte den anderen an.
    Wenn er über sie redet, wird er ganz einfach. Seán, ein Mann, der, wie er selbst zugeben würde, süchtig danach ist, zu gewinnen oder zu verlieren – doch als Evie krank wurde, fiel all das von ihm ab, und die Welt öffnete sich ihnen auf eine Art und Weise, die ihn bis heute in Erstaunen versetzt.
    An dem Morgen, als Evie ihren Anfall hatte, rief Aileen die Praxis der Neurologin an, bei der sie in zwei Wochen einen Termin hatten. Sie waren auf dem Weg zur Notaufnahme. Aileen saß hinten im Wagen, hielt Evie vor ihrem Sicherheitsgurt fest und bediente das Telefon. Die Sprechstundenhilfe sagte: »Einen Moment bitte«, und legte die Hand auf die Sprechmuschel. Dann kam sie zurück und sagte: »Dr. Prentice wird das Team hinschicken. «
    »Wie bitte?«
    »Wenn Sie in der Notaufnahme sind. Dr. Prentice wird hinzukommen, wenn Sie mit ihrem Team gesprochen haben.«
    Und genau das tat sie.
    Diese ersten paar Stunden hatten etwas Beglückendes. Ein Arzt, zwei Ärzte, ein Bett auf der Tagesstation. Die Fachärztin erschien: eine kleine, unerhört eindrucksvolle Frau, die in einem marineblauen Kreppanzug steckte. Die Fachärztin war freundlich. Sie bewilligte eine Kernspinuntersuchung und ein EKG. Sie verwendete den Begriff »gutartig«, was an Hirntumore denken ließ. Sie stellte ein Rezept aus. Sie sagte viele nette und beruhigende Dinge, die schwer zu behalten waren.
    Auf der Suche nach einem Ausgang wanderten sie durch die Krankenhauskorridore. Die erschöpfte Evie lag noch immer in den Armen ihres Vaters, und sie spürten – oder zumindest Seán spürte – die Schwere und Schönheit ihres Kopfes, der gegen seine Schulter rollte, das Mysterium, sie in die Welt gebracht zu haben, und ihre Art, diesem Mysterium zu entkommen, indem sie uneingeschränkt und ganz pragmatisch sie selbst war. Sie sahen sich um und prägten sich ihre Zukunft an diesem Ort ein: die signierten Fußballhemden in ihren Rahmen, die Geschicklichkeitsspiele auf Holztischen, die vergilbenden Wandmalereien von längst aus der Mode gekommenen Zeichentrickfiguren. Eine Reinigungskraft fragte, ob sie sich verlaufen hätten, was der Fall war. Eine Schwester fragte: »Wissen Sie, wo’s zum Ausgang

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