Anatomie
zur Unterstützung herbei. Zu viert hievten wir den stämmigen Sheriff hoch, trugen ihn zum Hubschrauber und schoben die Trage durch die Doppeltüren. Noch bevor die Türen zugeschlagen wurden, wurden die beiden Turbinentriebwerke wieder hochgefahren.
Durch das Fenster erhaschte ich noch einen Blick, wie die Krankenschwester sich daranmachte, Kitchings eine Infusion zu legen. Doch es war nur ein kurzer Blick. Der Hubschrauber hob vom Boden ab und schwenkte mit der Geschwindigkeit eines Kampfflugzeugs nach Westen. Als er hinter dem Berg verschwand, schaute ich auf die Uhr. Dreiundzwanzig Minuten – plus/minus eine – waren vergangen, seit der Sheriff zu Boden gegangen war. Wenn die erste Stunde die »goldene« war, dann hoffte ich, dass die erste halbe Stunde aus Platin war. Wenn rasche Diagnostik und Behandlung so entscheidend waren, wie die Kardiologen immer behaupteten, dann war Kitchings in ein paar Tagen wieder auf dem Posten.
Ich war mir allerdings nicht sicher, ob das gut war oder schlecht. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich diese Patronenhülsen jemals wiedersehen würde. Ich wandte mich zu Williams um. »Deputy, sobald sich der Staub gelegt hat und der Sheriff wieder auf den Füßen ist, sollten Sie ihn dazu bringen, Ihnen eine Quittung für diese Patronenhülsen auszustellen.«
»Allemal, Doc«, war alles, was er sagte. Doch sein Gesichtsausdruck – ein Ensemble aus Wut, Frust und Angst – sprach Bände. Das Problem war, dass ich mir nicht ganz sicher war, was in diesen Bänden stand.
36
Scheinwerfer tanzten über den demolierten JetRanger, als ein Fahrzeug über das Feld auf das Wrack zuholperte. Ich überlegte noch, wer wohl zuerst kommen würde – die Beamten der Kriminalpolizei von Tennessee oder meine forensische Einsatztruppe.
Ich hatte Miranda über das Satellitentelefon erreicht, das Jim O’Conner mir dagelassen hatte. Es war ein ungünstiger Tag, um ein forensisches Team zusammenzutrommeln. Nicht nur war es Samstag, es war just der Samstag genau mitten in den viertägigen Herbstferien an der University of Tennessee. Normalerweise wimmelten die Flure und Büros unter dem Stadion selbst am Wochenende von Anthropologiestudenten; doch heute waren diese anscheinend so rar wie Jungfrauen auf einer Studentenverbindungsparty. Miranda hatte nach einer halben Stunde zurückgerufen, um mir zu sagen, dass ihre Bemühungen, zwei weitere Doktoranden aufzutreiben, völlig erfolglos gewesen waren. »Rufen Sie Art Bohanan an«, sagte ich. »Er kennt sich nicht mit Knochen aus, aber er kann gut Beweismittel eintüten und Tatortfotos machen. Und versuchen Sie es bei Sarah Carmichael.«
»Wer ist das? Die kenne ich nicht.«
Ich wand mich bei der Frage. »Sie ist in einer meiner Vorlesungen. In der Verwaltung müssten sie eine Adresse von ihr haben.«
»Sarah Carmichael. Ist sie im Magisterstudiengang oder Doktorandin?«
»Sie … sie ist noch im Grundstudium.«
Es gab eine lange Pause. »Hat sie schon Osteologie gemacht?«
»Eigentlich nicht. Aber sie hat das Knochenkundehandbuch von sich aus praktisch auswendig gelernt.«
Eine weitere Pause, noch länger als die erste. »Ist es die, von der ich glaube, dass es sie ist?«
»Wahrscheinlich. Ja. Schauen Sie, es ist die Studentin, mit der Sie mich neulich beim Küssen erwischt haben, okay? Es tut mir leid; ich weiß, dass das komisch ist, und ich ziehe sie nur ungern hier mit herein, aber wenn Sie sonst niemanden finden, ist sie womöglich die Beste, die wir kriegen können. Sie ist klug, sie hat die Grundlagen drauf, und sie wird die Erfassung der Daten und das Ausfüllen des Knocheninventars gut hinkriegen.«
»Knocheninventar« war ein schicker Begriff für eine Umrisszeichnung des menschlichen Skeletts. Bei Untersuchungen vor Ort wie hier übertrug ich immer einem Studenten die Aufgabe, den Umriss der Knochen, die wir fanden, mit einem Bleistift oder Kugelschreiber auszumalen. Im Grunde sah es aus wie ein Halloween-Malbuch, und die einzigen Stellen, wo es schwierig war, nicht über den Rand zu malen, waren Hände, Füße und Schädel. Abgesehen davon, dass es schneller und leichter ging, als all die Namen der gefundenen Knochen aufzuschreiben, zeigte das Schaubild mir auf einen Blick, was wir hatten und was noch fehlte. Ich war zuversichtlich, dass Sarah absolut keine Probleme haben würde, das Formular akkurat auszufüllen.
»Wir brauchen ihre Hilfe nicht«, sagte Miranda. »Das kriegen wir auch ohne sie hin.«
»Nein, Miranda, das tun wir
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