Anatomie
sagte ich. »Und jetzt halten Sie mich nicht länger hin. Was fällt Ihnen an diesem Loch noch auf, das eventuell von einer Kugel stammt oder auch nicht?«
»Okay, es sieht zwar an beiden Seiten aus wie abgeschrägt, ist es in Wirklichkeit jedoch nicht – die Oberfläche ist glatt und unbeschädigt. Die Abschrägung durch eine Kugel ist rauer, und normalerweise entstehen Bruchlinien, die sich vom Loch aus ausbreiten.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Also ist das …?«
Sie runzelte die Stirn. »Ein Foramen?«
»Genau. Eine natürliche Öffnung im Knochen. Selten im weiblichen Brustbein, übrigens – bei zehn Prozent der Männer findet sich so etwas, aber nur bei vier Prozent der Frauen. Deswegen haben Sie noch nie eines gesehen.« Sie grinste, aufgeregt über diesen Wissensbrocken aus erster Hand. Auch danach war ich ein wenig süchtig. »Okay, machen wir weiter. Sind Sie bereit für das, was als Nächstes kommt?« Ihr Grinsen verschwand, und sie atmete tief durch. »Das könnte beunruhigend werden«, fügte ich hinzu. Sie nickte. »Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, dann machen Sie einfach eine Pause und gehen raus. Sie müssen sich nicht schämen.« Sie nickte noch einmal, mit großen Augen. Ich griff wieder nach der Handbrause, doch erst, nachdem ich den Druck auf die Hälfte verringert hatte.
Als die Adipocire im Zentrum der weiblichen Leiche schmolz, verspürte ich ein Gefühl der Erstaunens, das ich nur wenige Male im Leben empfunden hatte. Ein Bündel winziger Knochen tauchte auf, eingebettet in einen blasseren Klumpen Adipocire – einen Klumpen, der einst Fruchtwasser und fötales Gewebe gewesen war. Unsere junge Frau war schwanger gewesen – war in gewissem Sinne immer noch schwanger –, mit einem Baby, dessen Geburt viele Jahre überfällig war. Es war eine grausame, traurige Geburt, die hier mit meiner Hilfe geschah.
»Wir brauchen ein 2-Millimeter-Sieb über dem Ablauf, bitte, Miranda.« Sie flitzte an einen Schrank und holte eine Scheibe aus Drahtgewebe heraus, die sie in den runden Ansatz des Abflusses einlegte. Hoffentlich war sie fein genug, um alles aufzufangen.
Die winzigen Wirbel waren wie Staubperlen auf einem Faden; der Körper jedes einzelnen Wirbels nicht größer als eine Linse. Auf beiden Seiten des Wirbelkörpers schwebten die zwei Hälften des Vertebralbogens, die in den ersten Lebensjahren zuerst miteinander und dann im Kindergarten- oder Vorschulalter mit dem Wirbelkörper verschmolzen wären. Am unteren Ende der Wirbelsäule ruhten die winzigen Anfänge der Beckenknochen, in Form und Größe an Limabohnen erinnernd. Neben der Wirbelsäule zusammengefaltet waren die Beine: Der Oberschenkelknochen hatte in etwa die Größe des Mittelknochens meines Zeigefingers; das Schienbein war eher wie der Knochen vom kleinen Finger. Die Fußknochen waren so klein, dass sie mit einem Sieb aussortiert werden mussten. Im rechten Winkel zur Mittellinie der Wirbelsäule und Beine bogen sich die Rippen – dünne, gebogene Späne, die von einer Wachtel oder einer Forelle hätten stammen können. Die Schädelknochen, die den untersten Punkt des fötalen Skeletts bildeten, waren ebenfalls vogelgroß; der Hinterkopf, die Schädelbasis, war nicht größer als ein Vierteldollar.
»Kaum zu glauben, dass wir alle so klein und zerbrechlich anfangen«, sagte ich. »Sieht aus, als wäre sie etwa in der Mitte der Schwangerschaft gewesen.«
»Wie können Sie das sagen? Wer hat das erforscht? Wer kann so etwas ertragen?«
»Zwei Pathologen in Budapest in den siebziger Jahren. Sie haben hundertfünfzig fötale Skelette untersucht und vermessen, in jedem Entwicklungsstadium. Ich weiß nicht, warum sie damit anfingen, aber ich schätze, sie ertrugen es auf dieselbe Art, wie wir das hier jetzt ertragen: Knochen für Knochen, zum Nutzen von irgendetwas Wichtigerem.« Wir verfielen in Schweigen, und ich dachte an die anderen fötalen Skelette, die ich untersucht hatte.
Erst drei Mal hatte ich ein Skelett im Uterus gesehen. Zwei in Gräbern der Arikara-Indianer in South Dakota. Ihre Dörfer waren, wie ich wusste, von den Pocken entvölkert worden, die weiße Pelzhändler absichtlich verbreitet hatten – ein früher Fall biologischer Kriegsführung. Im dritten Fall wurden neben einem ländlichen Streifen Fernstraße in Kentucky im Unterholz die Überreste einer schwangeren Frau gefunden. Sie war, soweit die Polizei und ich das rekonstruieren konnten, per Anhalter unterwegs gewesen und in das falsche Auto
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