Anatomie
den Projektor ein und die Neonröhren an der Decke aus. Als die Autofokus-Linse sich vor und zurück schob, um ein klares Bild zu produzieren, lösten sich grüne und gelbe Flecken zu den Geländemotorrädern auf, mit denen wir uns den Berg hinaufgekämpft hatten. Sheriff Kitchings Bauch blitzte auf und füllte die halbe Leinwand aus, wie er sich durch den schmalen Spalt zwängte. Er hatte das Gesicht verzogen und die Zähne zusammengebissen vor Anstrengung. Ich musterte den Mann, der mich erst um Hilfe gebeten und mir dann die Wahrheit verheimlicht hatte. Irgendetwas an dem Foto störte mich. Das Bild – die Art, wie er seinen Bauch hochhob – war grotesk, aber das war es nicht, was mir keine Ruhe ließ. Ich starrte noch eine Weile auf sein Gesicht, ohne dass ich darauf gekommen wäre, dann machte ich weiter. Die Sohlen von drei verschiedenen Stiefeln – die des Sheriffs, die des Deputys und meine – blitzten auf. Weil ich die drei Stiefelbilder absichtlich nach vorne sortiert hatte, fingen erst da meine Fotos des matschigen Bodens der Höhle an.
Die ersten Bilder zeigten einige Hinweise auf Fußspuren, doch der Aufnahmewinkel – von hoch oben fast senkrecht nach unten fotografiert – ließ alles flach und nichtssagend erscheinen. Als die Kameraeinstellung allmählich niedriger wurde, tauchten Schatten auf und wuchsen, als würde die Sonne in der Höhle untergehen, die Konturen im Matsch in ein scharfes Relief verwandeln und eine Welt voller Strukturen enthüllen. Eine Welt voller Fußabdrücke. Die Abdrücke erinnerten mich an Mondkrater, durch ein Teleskop betrachtet: Bei Vollmond wirkt die felsige Oberfläche auf den ersten Blick täuschend glatt. Doch in anderen Stadien, besonders wenn man ihn beim Terminator betrachtet – der Grenze zwischen Licht und Schatten –, zeigen sich die Krater und Schluchten als zerklüftete, rasiermesserscharfe und bedrohliche Konturen. Die Krater in der Höhle waren von menschlichen Füßen gemacht, nicht von riesigen Meteoriten, doch die Oberfläche war fast so pockennarbig und rau wie das uralte Gesicht des Mondes.
Kitchings hatte mir erzählt, dass er und Williams gerade so weit in die Grotte hineingegangen waren, um festzustellen, dass dort eine Leiche lag. Und tatsächlich führten zwei Spuren – das Muster einer Stollensohle, das zu den Stiefeln des Sheriffs passte, und ein gewelltes Muster, das von Williams’ Stiefeln zu stammen schien – zu der Felsplatte, auf der die Leiche lag. Die Spuren stoppten, und einige wahllose, sich überlagernde Schritte deuteten an, dass die Männer das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert hatten. Dann änderten diese Spuren die Richtung und führten zurück zur Kamera und zum Eingang der Grotte. Ich nickte bei mir; nach dem, was sie mir erzählt hatten, hatte ich genau das erwartet.
Was ich nicht erwartet hatte, war etwas auf dem nächsten Dia, das ich aufgenommen hatte, indem ich mich sehr weit nach links gelehnt hatte, über den Kopf der Leiche hinweg. Auch diese Bilder waren aus einem niedrigen Winkel aufgenommen. Der Anblick dessen, was auf der Leinwand auftauchte, ließ mich aufkeuchen. Ein wahrer Ansturm von Fußabdrücken näherte sich der Leiche aus der anderen Richtung, einem schattigen Winkel, wie ich mich erinnerte, von dem ich gedacht hatte, er sei eine Spalte, die nicht weiter führte. Die Spuren – viele Spuren, sicher ein Dutzend oder mehr – entfernten sich auf demselben Weg, wie sie gekommen waren. Ich war sprachlos. »Gütiger Himmel«, sagte ich laut, »wie viele Leute waren denn in der verdammten Höhle?« Dann traf mich ein anderer Gedanke: Waren das womöglich morbide Touristen, die irgendwie Wind von dem gruseligen Spektakel in der Grotte bekommen hatten? Doch ich brauchte nur wenige Sekunden, um zu erkennen, dass die vielen Spuren in Wahrheit von einer einzigen Person stammten: Schicht über Schicht Abdrücke desselben Stiefelpaars. Den Sohlen nach zu urteilen waren die Stiefel alt und abgetragen und eher Arbeitsstiefel als Wander- oder Militärstiefel. Nur hier und da an den Rändern sahen einige der früheren Spuren – solche, die von späteren nur teilweise überdeckt wurden – schärfer aus, als wären die Stiefel anfangs noch neuer gewesen. Ich spürte, wie mein Hirn vor und zurück fuhr, wie die Linse des Diaprojektors, die Mühe hatte, ein scharfes Bild einzustellen. Schließlich hatte ich es: Jemand hatte die Höhle wiederholt aufgesucht, über einen langen Zeitraum hinweg. Ich würde Art
Weitere Kostenlose Bücher