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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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bitten, einen Blick darauf zu werfen und mir zu sagen, was er davon hielt, doch das schien mir die einzige sinnvolle Erklärung zu sein. Die einzige andere Möglichkeit war die, dass eine Menschenmenge hereingetrampelt war, die identische, aber unterschiedlich alte Stiefel trug. Beide Szenarios waren beunruhigend.
    Doch nicht so beunruhigend wie das, was ich als Nächstes sah. Es war die letzte Aufnahme des Bodens, ähnlich den vorherigen, doch diese folgte den Spuren noch weiter dahin, wo offensichtlich ein zweiter Zugang lag. Am Rand der vielen identischen Fußabdrücke gab es eine zusätzliche Spur – zuoberst und daher die neueste. Anders als die Schichten der abgetragenen Arbeitsstiefelspuren stammten diese Abdrücke von frischen, praktisch neuen Sohlen, und sie sahen sehr nach den Sohlen an den Füßen von Sheriff Kitchings aus.
    Ich schaltete den Projektor aus und blieb im Dunkeln sitzen. Der Ventilator des Projektors summte leise, ansonsten war es still. Die Hitze des Apparats erwärmte den Raum, doch das Bild, das ich gerade gesehen hatte, ließ mich frösteln. Ich bearbeitete einen Fall für einen Sheriff, den ich nicht kannte und dem ich nicht traute. Ich stand in Kontakt mit einem selbsternannten Gesetzlosen – einem potenziellen Verdächtigen –, den ich ebenfalls nicht kannte, dem ich seltsamerweise aber vertraute. Der solide Halt, den ich normalerweise unter den Füßen spürte, schien auf beiden Seiten zu bröseln, und ich schwankte auf einem dünnen Grat, links und rechts nur dunkle, in schwindelnde Tiefen abstürzende steile Felswände. Zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn erwog ich, mich von einem Fall zurückzuziehen. Sämtliche inneren Alarmglocken schrillten wie verrückt; die Einsätze schienen zu hoch, die Wahrheit zu sehr getrübt von Geheimnissen, die tief in den Bergen verborgen lagen oder in den Herzen der clanbewussten Menschen, die dort lebten.
    Ich atmete tief durch. Dann schaltete ich den Projektor wieder ein und ging zum nächsten Dia über. Die Frau – Leena, wie ich sie jetzt nennen konnte – lag auf der Felsplatte, reglos für immer. Erneut war ich überrascht über die Frische ihrer wächsernen Todesmaske, über die bemerkenswerte Konservierung durch das Klima in der Höhle und die Chemie des Körpers. Der Gedanke, dass sie nach den vielen Jahren nahezu vollkommener Konservierung jetzt nicht mehr war, war seltsam: Indem ich sie untersucht hatte, hatte ich sie zerstört. Es war notwendig, aber es war traurig – vor allem angesichts des kleinen Lebens, das sie in sich trug, als sie starb.
    Ich sah mir die anderen Aufnahmen von Leena an, wobei ich bei den besten Seitenansichten des Bauchs kurz innehielt. Jetzt schien offensichtlich, dass sie schwanger war, doch ich wusste, dass das nur daran lag, dass mein geistiges Auge die Kontur des winzigen Skeletts hinzufügte, das ich ihrem Bauch entnommen hatte. Schließlich verweilte ich bei einer Nahaufnahme ihres Gesichts. Ich musterte es viele Minuten lang und versuchte, die Geheimnisse, die es barg, zu entziffern. Hatte ihre Miene einen schwachen Hinweis auf ihre Schwangerschaft enthalten – ein inneres Lächeln oder besorgte Spannung? Wenn dem so war, dann war sie durch einen grausigeren Gesichtsausdruck abgelöst worden. War es Schrecken oder Anklage oder nur die mechanische Verzerrung durch die Mumifizierung?
    »Wie lautet deine Geschichte, Leena Bonds?«, murmelte ich, »und wer hat dich und dein Baby umgebracht und warum?«
    Sobald ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich mich nicht von diesem Fall zurückziehen würde, komme, was da wolle.

18
    Bei der ersten Telefonnummer, die Jim O’Conner mir gegeben hatte, ging niemand ran, also versuchte ich es bei der zweiten. »Tag, Doc«, dröhnte nach dem zweiten Klingeln eine tiefe Stimme.
    »Hallo? Spreche ich mit … Waylon?«
    »Sicher doch.«
    Ich war verdutzt, dass ich den Bergmenschen am Apparat hatte und nicht O’Conner. »Tut mir leid, Sie am Sonntagmorgen zu stören, Waylon. Ich versuche, Jim zu erreichen. Woher wissen Sie, dass ich es bin?«
    »Ihr Leute aus der Stadt seid nicht die Einzigen, die eine Anruferkennung habt«, sagte er. »Bei uns hier oben gibt’s auch Hightech, Doc. Zum Teufel, er hat mir sogar ein Modem und einen High-Speed-Internetzugang besorgt.« Ich versuchte mir vorzustellen, auf was für Webseiten Waylon wohl surfte – Jagdausrüstung? »Wie überlebe ich in der Wildnis«-Seiten? Hinterwäldler-Kleinanzeigen (»Toleranter

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