Anatomie
Erinnerung nicht? Und wie hatte ich denn ausgesehen, als sie mich das letzte Mal gesehen hatte? Ich hatte weder die Zeit noch den Mut, die beiden Fragen zu stellen. Also fragte ich sie stattdessen, ob sie den Sektionsgehilfen gesehen habe, ich müsse ihn dringend sprechen. »Joey? Ich glaube, er verbrennt Zeug.« Nicht gut, dachte ich, wirbelte auf dem Absatz herum und lief den Flur hinunter, der seitlich aus dem Leichenschauhaus hinaus führte, wo in einem abgelegenen Winkel des Krankenhauskomplexes der Verbrennungsofen für medizinischen Abfall stand.
Joey Weeks, der Sektionsgehilfe, stand vor der offenen Luke des Verbrennungsofens, neben sich eine Fahrtrage. Ich sah ihn eine Tüte in den Ofen werfen, dann griff er nach einer zweiten. »Warten Sie!«, schrie ich.
»Hey, Doc«, sagte er, als ich schlitternd zum Stehen kam. »Was ist los?«
»Joey, ich suche Gewebe von einer Exhumierung vor zwei Tagen.«
»Exhumierung? Oh, Sie meinen den, der von Dr. Carter aus Chattanooga obduziert wurde? Der Typ, der nichts zwischen dem Kopf und der Taille hatte? Das war vielleicht gruselig, Mann.«
»Ja, den meine ich. Wissen Sie etwas darüber? Bei der Leiche im Kühlraum war eine rote Plastiktüte für infektiösen Abfall mit Gewebe darin.«
»Klar. Dr. Hamilton hat mir gesagt, das sei Abfall. Sagte, ich solle ihn verbrennen. Geht wahrscheinlich schon in Rauch auf.«
Hamilton? »Mist.«
»Gibt’s Probleme?«
»Ich hatte gehofft, einen letzten Blick auf etwas werfen zu können.«
Er wies auf die Trage. »Na, ein paar Tüten sind ja noch übrig. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Schauen wir doch mal. Wissen Sie die Nummer?«
Ich überlegte fieberhaft. »Es waren zwei Obduktionsnummern drauf – die ursprüngliche von letztem Jahr, da weiß ich nicht mehr, was nach dem ›A-2004‹ kam. Aber Dr. Carter hat eine zweite Nummer draufgeschrieben, als sie es sich neulich angesehen hat, A-2005-125 vielleicht.«
»Kann ja nicht viele Beutel mit zwei Nummern geben. Wenn er noch hier ist, finden wir ihn auch.«
Wir sahen auf der Trage nach. Doch dort war er nicht, und mich verließ der Mut. Dann fiel mein Blick auf die Tüte, die immer noch in Joeys rechter Hand baumelte. Wenn ich nur eine Sekunde später gekommen wäre, wäre sie in Flammen aufgegangen.
Ich trug die verwesten Organe mit beiden Händen vor mir her wie Kronjuwelen auf einem samtenen Kissen. Doch weniger aus Ehrfurcht als vielmehr aus Vorsicht: Der Beutel hatte Löcher bekommen und tropfte unablässig. Im Faulleichen-Séparée legte ich meine Trophäe auf eine Arbeitsfläche und schnitt die Tüte oben auf. Der Inhalt rutschte heraus und plumpste auf das saugfähige große Watte-Pad.
Zuerst fischte ich die Reste von Herz, Magen und Gedärm heraus, dann das, was ich für die Leber hielt, dann verschiedene andere Organe, die mehr oder weniger als sie selbst zu erkennen waren oder zumindest als etwas anderes als Lunge. Übrig blieb ein Haufen Lungengewebe, das aussah wie ein beim Backen irgendwie schrecklich missratener Schokoladenkuchen.
Die effizienteste Methode war leider auch die, bei der ich die größte Sauerei veranstalten würde. Ich nahm den erstbesten Klumpen Gewebe, drückte ihn zusammen und zermatschte ihn zwischen den Fingern. Nichts. Das wiederholte ich mit einem weiteren halben Dutzend nach Lungengewebe aussehender Klumpen. Immer noch nichts. Ich griff nach dem letzten Klumpen und drückte ihn frustriert fest zusammen … und plötzlich stach mich etwas Spitzes in den Handballen. Ein Knochensplitter, zweieinhalb Zentimeter lang, am Ende sechs Millimeter dick und sich zum anderen Ende hin verjüngend, hatte meinen Gummihandschuh durchstochen: Hoffentlich hatte er nicht die Haut darunter verletzt. Ich spülte ihn ab, tat ihn in einen kleinen Topf zum Kochen und wusch und desinfizierte mir die Hände. Die Haut schien unverletzt, aber ich marinierte sie trotzdem gründlich mit Betadine.
Gerade als ich mich abtrocknete, ging die Tür auf und Miranda kam herein, mit einem leuchtend orangefarbenen Fiberglasgipsverband ausgestattet. Sie drehte eine Pirouette und hielt den Gipsverband stolz vor sich hin. »Tennessee-Volunteers-Orange«, sagte ich, »sehr sportlich.«
»Ich dachte, beim Footballspiel nächste Woche machen die vom Fernsehen bestimmt eine Nahaufnahme von mir«, sagte sie. »Irgendwelche Fortschritte bei unserem Freund hier?«
»Ja, wenn auch sehr knapp. Reines, blindes Glück in letzter Sekunde.« Mit einer Pinzette angelte ich das
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