Anatomien
befindlichen funktionalen Eigenschaften des Penis werden sichtbar, aber die dreidimensionale innereAusdehnung des weiblichen Organs wird kaum ausreichend deutlich.
Auch die jüngste „Entdeckung“ und Beschreibung des „G-Punkts“ bezeugt ähnliche Schwierigkeiten. Im Berlin der von Marlene Dietrich und Kurt Weill besungenen goldenen zwanziger Jahre erlangte ein Gynäkologe namens Ernst Gräfenberg Berühmtheit, weil er das erste intrauterine (in die Gebärmutter einzuführende) Verhütungsmittel erfand. 1940 floh er vor den Nazis und eröffnete in New York eine Privatpraxis, wo er den weiblichen Orgasmus weiter erforschte. Er erlebte nicht mehr, dass in den 1980er Jahren der „G-Punkt“ nach ihm benannt wurde. Immerhin hatte er selbst nie von einem Punkt gesprochen, nur von einer „Zone“, die an der weiblichen Ejakulation beteiligt sei. Natürlich ist der G-Punkt nichts Neues, nur seine kulturelle Konstruktion ist neu. Einige meinen, es gibt ihn, andere behaupten, es gibt ihn nicht, das bleibt wohl auch so.
Die Debatte zeigt, dass wir leider weiterhin eine Entdeckermentalität besitzen und bei unserer Untersuchung des menschlichen Körpers schon aus Bequemlichkeit davon ausgehen, dass er Regionen besitzt mit eindeutigen Ländergrenzen und Hauptstädten, an denen die wichtigsten physiologischen Ereignisse stattfinden. In dieser Hinsicht haben wir die physische Geografie des Körpers in eine politische Geografie verwandelt.
Kopf
In der Kirche der Clowns, der Dreifaltigkeitskirche in Dalston im Londoner Norden, treffe ich Mattie Faint, der sich um die Mitglieder seiner schwindenden Berufsgruppe kümmert. Er ist Clown von Beruf, sieht aber heute wie ein Mufti aus. Die Mitgliederliste besteht nicht aus Papier, sondern aus einer Reihe von Eiern. In einem eigens dafür vorgesehenen Bereich der Kirche stehen Dutzende von ihnen in einem Schrank zur Schau. Alle Eier sind bemalt, die meisten in Schwarz, Rot und Weiß, und sollen wie ein bestimmter Clown aussehen. Viele tragen einen spitzen Hut aus Stoff oder Pappe. Manche haben eine Nase, die wie eine aufgeklebte Johannisbeere aussieht. Einige lassen Rückschlüsse auf das tatsächliche Aussehen des Künstlers zu, etwa durch aufgemalte Krähenfüße oder Falten im Gesicht. Ich halte nach bekannten Namen Ausschau und stoße auf Grimaldi – ein weißes Gesicht mit großen, freundlichen Augen. Seine Wangen sind große, rote Dreiecke, drei orangefarbene Haarbüschel zieren seinen Kopf. Mattie Faints Lieblingsclown ist Lou Jacobs, der als Erster im Zirkuszelt ein lächerlich kleines Clownauto fuhr und dessen äußeres Markenzeichen seine Augenbrauen waren, die sich wie zwei Bögen über sein Gesicht ziehen, ein bisschen wie beim Logo von McDonald’s.
Die Clownliste aus Eiern ist kein Witz, sie dient als offizielles Verzeichnis praktizierender Clowns. Wer Clown sein will, muss Make-up tragen, sonst ist er einfach keiner. Es hat sich so eingebürgert, dass Clowns ihr charakteristisches Make-up auch dann weiterbenutzen, wenn sich ihr Programm verändert. „Im Gegensatz zu einem Schauspieler ist ein Clown eben der, der er ist“, erklärt Mattie. „Wir spielen keine verschiedenen Rollen.“ Das Ei steht für die professionelle Identität eines Clowns. Ein- oder zweimal wurde ein Ei sogar vor Gericht herangezogen, um einen Urheberrechtsstreit zu entscheiden. Das ist doch viel schöner als die trübseligen Passfotos, mit denen wir uns ausweisen müssen.
Das Verzeichnis funktioniert, weil wir eine Darstellung des Kopfes als Zeichen für den echten Kopf akzeptieren und weil der Kopf für den ganzen Menschen stehen kann. Im antiken Griechenland und in anderen klassischen Kulturen war die Brust der Sitz des Bewusstseins – im Kopf saß die Psyche, die Seele und die Geisteskraft einer Person. Wer nickt, überträgt der Welt symbolisch diese Kraft. Lange galt das Niesen als noch nachdrücklichere, exklusivere und bedeutendere Äußerung, eben weil es unwillkürlich geschah. Bis ins 17.
Jahrhundert schrieb man ihm prophetische Kraft zu: Was der Niesende gerade dachte, würde geschehen.
Der Kopf ist auch im Wort Staatsoberhaupt gegenwärtig. Dessen ganzer Körper wird auf Münzen, bei Büsten und oft auf Gemälden auf den Kopf reduziert. Für den Rest von uns geschieht das auf den offiziellen Lichtbildausweisen. Unterschrift, Fingerabdruck, Irisscan und genetisches Profil helfen bei der Identitätsbestimmung; vielleicht kommen in Zukunft noch kompliziertere biometrische
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