Anbetung
die Finger zu bekommen, brauchte Robertson einen Schlüssel, den er nicht besaß.
»Wir werden hier doch wohl nicht bis zur Morgenmesse ausharren«, sagte Stormy, als könnte sie meine Gedanken ebenso leicht durchscrollen wie eine Datei auf ihrem Computer.
Mein Handy klemmte am Gürtel. Ich hätte es benutzen können, um Chief Porter anzurufen und ihm die Lage zu erklären.
Es war jedoch durchaus möglich, dass Bob Robertson Zweifel gekommen waren, ob es klug war, an einem öffentlichen Ort wie einer Kirche über mich herzufallen, selbst wenn im Augenblick weder Gläubige noch andere Zeugen zugegen waren. Vielleicht hatte er seinen tobenden Zorn gezügelt und war verschwunden.
Wenn nun der Polizeichef einen Streifenwagen losschickte oder selbst herkam, ohne dass ein grinsender Psychopath zu finden war, dann stand meine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Im Lauf der Jahre hatte ich zwar genug Vertrauen bei Wyatt Porter gebunkert, um davon etwas von meinem Konto abheben zu können, aber das tat ich nur ungern.
Es liegt in der menschlichen Natur, an die Kunststücke eines Magiers zu glauben – sich aber auch gegen ihn zu wenden und ihn zu verspotten, sobald er den kleinsten Fehler macht, der seine Tricks offenbart. Dann geniert sich das Publikum, weil es so leicht beeindruckt werden konnte, und gibt die Schuld an der eigenen Leichtgläubigkeit dem Artisten.
Nun verwende ich zwar keine Taschenspielereien, und was ich darbiete, ist die mit paranormalen Fähigkeiten erblickte Wahrheit, aber dennoch bin ich mir nicht nur der Verwundbarkeit des Magiers bewusst, sondern auch der Gefahr, blinden Alarm zu schlagen.
Die meisten Menschen haben den dringenden Wunsch zu glauben, dass sie ein Teil eines großen Mysteriums sind, einer Schöpfung, die ein Werk der Gnade ist und nicht nur das Ergebnis zufällig zusammenprallender Kräfte. Doch jedes Mal, wenn man ihnen auch nur einen einzigen Grund zu zweifeln liefert, regt sich ein Wurm im Apfel ihres Herzens und sorgt dafür, dass sie sich von tausend Beweisen des Wunderbaren abwenden. Danach dürsten sie wie ein Säufer nach Zynismus und nähren sich von Verzweiflung wie ein Hungriger von einem Laib Brot.
Da ich in gewisser Weise zu den Wundertätern gehöre, balanciere ich auf einem Drahtseil, das zu hoch ist, um bei einem Fehltritt zu überleben.
Chief Porter ist mir wohlgesinnt, aber auch er ist nur allzu menschlich. Er würde sich zwar nicht sofort gegen mich wenden, aber wenn er sich mehr als einmal töricht und leichtgläubig vorkäme, dann wäre das letztlich unvermeidlich.
Ich hätte mein Handy auch benutzen können, um Stormys Onkel im Pfarrhaus anzurufen. Er wäre uns unverzüglich und ohne viele peinliche Fragen zu Hilfe gekommen.
Bei Robertson handelte es sich jedoch um ein menschliches Ungeheuer, nicht um eines der übernatürlichen Art. Wenn er auf dem Kirchhof lauerte, dann würden ihn weder der Anblick eines Stehkragens noch ein geschwenktes Kruzifix von Gewalttaten abhalten.
Nachdem ich schon Stormy in Gefahr gebracht hatte, schrak ich vor der Vorstellung zurück, ihren Onkel in dieselbe Lage zu bringen.
Zwei Sakristeitüren. Die eine führte auf den Hof, die andere ins Kirchenschiff.
Da ich an keinem der beiden Ausgänge etwas gehört hatte, musste ich mich auf meine Intuition verlassen. Ich wählte die Tür zur Kirche.
Stormys Intuition hingegen hüpfte offenbar immer noch aufgeregt vor sich hin. Als ich nach dem Drehknopf griff, legte sie ihre Hand auf meine.
Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Dann drehten wir beide den Kopf und starrten auf die Tür nach draußen.
Es war einer jener Augenblicke, in denen die Karte aus dem Wahrsageautomaten und unsere übereinstimmenden Muttermale ihre Bedeutung zu demonstrieren schienen.
Ohne ein Wort zu wechseln, entwickelten wir einen Plan, den wir beide begriffen. Ich blieb an der Tür zum Altarraum stehen, Stormy ging zur Tür nach draußen zurück.
Falls Robertson sich auf mich stürzte, wenn ich meine Tür aufschloss, dann würde Stormy die andere Tür aufstoßen, aus der Sakristei fliehen und um Hilfe rufen. Ich wiederum würde versuchen, ihr zu folgen – und dabei am Leben zu bleiben.
20
In diesen Sekunden in der Sakristei kristallisierte sich der Kern meiner ganzen Existenz: immer zwischen zwei Türen, zwischen einem Leben mit den Lebenden und einem Leben mit den Toten, zwischen Transzendenz und Schrecken.
Von der anderen Seite des Raums her nickte Stormy mir zu. Auf dem Gebetstuhl
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