anderbookz Short Story Compilation II
versperrte hinter sich die Tür. Im Stockwerk darüber öffnete Bird mit demselben Schlüssel Gildas Tür. Sie betrat den stockfinsteren Raum, zog die Vorhänge ein wenig zurück, um das Dämmerlicht hereinzulassen, und streckte sich neben der bewegungslos daliegenden Gestalt aus. Trotz seiner ungewöhnlich niedrigen Eigentemperatur hatte Gildas Körper die Satinlaken angewärmt, die die weiche Erde bedeckten. Bird schlief nicht. Sie betrachtete die Schatten, freute sich an der heimatlichen Stille des Zimmers und dachte über das Mädchen und über Gilda nach.
Durch das Mädchen genoß Bird die Tage jetzt mehr. Deren ernste Neugier empfand sie als wohltuend, und sie spürte, daß es Gilda ähnlich ging. Und dennoch hinterließen die neuen Umstände bei Bird ein Gefühl von Unsicherheit. Zwar wirkte Gilda offener und entspannter, andererseits schien sie innerlich abwesend zu sein, als bewege sich ihr Geist in einer Zukunft, die keine von ihnen je kennenlernen würde. Bird versuchte, Gilda aus den Wolken zu holen - vergebens. Gilda sprach vom einzig wahren Tod und daß ihre Zeit bald kommen mochte. Dann stritten sie sich.
Bird spürte, daß Gilda immer noch Gedanken an den wahren Tod wälzte, zu ihr aber nur indirekt darüber sprach, auch nachdem die neue Routine längst eingespielt und beider Zukunft gesichert schien. Auf ihre Frage nach dem Schicksal des Mädchens , sollten Bird und Gilda Woodard’s einmal verlassen, erhielt Bird eine rätselhafte Antwort.
»So wie ich auf ewig bei dir bin, wird sie immer bei uns sein.« Gilda lächelte.
»Wie kann das sein?« Gewiß machte Gilda einen Scherz.
»Sie ist so stark wie wir und kennt unser Leben.«
»Sie ist noch ein Kind. Die Entscheidung, die du von ihr verlangen würdest, kann sie nicht treffen!« Bird war beunruhigt. Gilda hatte es offenbar ernst gemeint.
»Wir waren alle mal Kinder. Und die Zeit vergeht. Sie wird bereit sein, wenn ich es bin.«
»Bereit?« Daß das Mädchen eine der ihren werden könnte, wollte nicht in Birds Kopf.
Gilda spürte ihren Widerwillen und sagte in leichtem Ton: »Aber ja, meine Liebe, bereit, dich herauszufordern. Sie wird die beste Schülerin sein, die du je gehabt hast, vielleicht gar eine Studentin. Wir werden Woodard’s in ein College für Mädchen verwandeln!« Gilda lachte und manövrierte ihre Unterhaltung aus dem Bereich der heiklen Themen.
Bird mußte jetzt an dieses Gespräch denken, wollte aber keine der Fragen erneut stellen, nicht einmal sich selbst. Sie wollte nur Gildas Nähe spüren, ihrem Herzschlag lauschen, sobald sie erwachte. Später, bei Dunkelheit, würden sie, vielleicht gar gemeinsam, das Haus verlassen und ihre Ration Blut suchen.
Nach zwei Jahren sah das Mädchen in Woodard’ s allmählich ein Zuhause. Am Ende des dritten Jahres war sie fast acht Zentimeter gewachsen und hatte die runden Schenkel und Brüste einer Frau. Sie wusch sich jeden Morgen mit kaltem Wasser, bevor sie in die Küche zu Bernice ging, die sich an ihr ruhiges, leuchtendes Gesicht gewöhnt hatte. Bernice kümmerte sich fürsorglich um das leibliche Wohl des Mädchens , bis sie den Eindruck gewann, daß die Kleine ein gesundes Gewicht erreicht hatte. Die anderen Frauen erkundigten sich nach dem Fortgang des Unterrichts und neckten sie liebevoll. Unter ihrer Schminke waren sie mehr oder weniger einfache Bauernmädel, die sich bisweilen ganz gern um ein jüngeres Geschwister kümmerten.
Das Mädchen blieb meist für sich und besorgte den Garten, falls sie nicht im Haushalt zu tun hatte oder mit Bird lernte. Im Garten leistete ihr manchmal Minta Gesellschaft, die ihre zarte, blasse Haut mit einem ausladenden Hut vor der Sonne schützte. Nur zwei Jahre älter als das Mädchen , war sie seit langem bei Woodard’s und benahm sich, als habe sie ihr ganzes Leben in einem Bordell verbracht.
Als Minta zwanzig wurde, fuhr Gilda mit ihr in die Stadt und kaufte ihr ein neues Kleid. Das war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war hingegen das Fest, das Bird und Gilda für Minta planten. Zum Dinner machten sich alle fein. Spaß und Gelächter erfüllten erst die Küche und dann den Salon. Von manchen Kunden bekam Minta Blumen oder andere Aufmerksamkeiten, aber am meisten freute sie sich über die schlichte Baumwollbluse, die das Mädchen für sie genäht hatte.
Mit stolzem Lächeln beobachtete Gilda ihre Mädchen, die zu Frauen herangereift waren. Auch das Findelkind hatte sich gemacht und assistierte Bird bei der Verwaltung von
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