Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
anderbookz Short Story Compilation II

anderbookz Short Story Compilation II

Titel: anderbookz Short Story Compilation II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates , Peter Straub , Jewelle Gomez , Thomas M. Disch , Ian Watson , Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
häufig im Hause, aber wenig zu sehen. Gewöhnlich schloß sie sich bis sechs Uhr abends in ihren Räumen ein. Sie schlief, las und schrieb in einem der voluminösen Tagebücher, die sie unter Schloß und Riegel in der Kommode verwahrte.
    Den Bordellalltag managte Bird; sie organisierte die Einkäufe, vermittelte bei Streitereien mit den Händlern oder zwischen den Mädchen und unterwies das Mädchen in seinen Pflichten. Eines Tages beschloß Bird, sie lesen zu lehren. Von da an saßen sie mit der Bibel und der Zeitung Nachmittag für Nachmittag in Birds schattigem Zimmer und nahmen sich eisern Buchstaben und Worte vor.
    Geduldig lauschte das Mädchen , wenn Bird in ihren eigenen Worten eine Geschichte erzählte und sie dann Silbe für Silbe vom Papier aufpickte, bis das entstand, was Bird erzählt hatte. Das Mädchen sah anfangs keinen Sinn in den Lektionen. Sie kannte niemanden, der lesen können mußte, außer dem schwarzen Prediger, der Samstag abends kam und unter dem wachsamen Blick des Aufsehers eine Predigt hielt. Aber auch der Prediger klatschte eher mit der Hand auf die Bibel, als daß er daraus vorlas.
    Bald fand das Mädchen Vergnügen am Unterricht. Es war schön, den Namen des Gouverneurs von Louisiana wiederzuerkennen, als die Mädchen ihn am Küchentisch durchhechelten, oder auch zu wissen, was Fanny meinte, wenn sie behauptete, Rachel sei »so störrisch wie Lots Frau«. Auch gefiel ihr Birds Duft. Das Mädchen fühlte sich von der intensiven Erdhaftigkeit der Lakota-Frau angenehm fasziniert, wenn sie nebeneinander auf den weichen Sofakissen saßen und sich über Bücher und Zeitungen beugten. Bird benutzte keine Kosmetika und Parfüms wie ihre Mitbewohnerinnen. Der schwache Duft nach brauner Seife und Leder erinnerte Das Mädchen an die Mutter und deren strengen Geruch, wenn ihr der Schweiß in dicken Tropfen auf die brennenden Scheite unter den Kochkesseln tropfte. Die Mutter und die Schwestern zu vermissen, erlaubte sich das Mädchen ihrer Kindheinur selten; die Vergangenheit sollte besser ruhen, jedenfalls solange, bis sie sich in dieser neuen Welt sicher fühlte.
    An der Seite des Mädchens war Bird nicht mehr unnahbar; die Erinnerungen an ihre eigene Geschichte, die das Mädchen bei ihr weckte, machten sie sanft und geduldig. Bird schaute forschend in die afrikanischen Augen, die sich mühten, hinter den Wörtern auf einem Blatt Papier die Welt der Weißen zu verstehen. Und sie fragte sich, was Geschöpfe, die so unsichtbar waren wie sie selbst und das Mädchen , mit ihrer Vergangenheit anfingen.
    Sollten sie sie einfach abschütteln und in einer Kommode verwahren für eine ungewisse Zukunft? Und was hatte es mit jener Zukunft auf sich, die Gilda Bird geschenkt hatte? Wo konnte sie nachschauen, um das Rätsel dieser Zukunft zu klären? Welches Orakel würde ihr helfen, die richtige Deutung zu finden?
    Zuerst unterrichtete Bird das Mädchen mit Hilfe von Bibel und Zeitung. Doch in deren Geschichten fanden sich beide nicht wieder. Dann benutzte sie Geschichten aus ihrer Kindheit, um das Mädchen schreiben zu lehren. Während ihre Hand die des Mädchens über das abgewetzte Papier führte, sprach sie erst die Buchstaben und dann das ganze Wort vor. Daraus entstand bald ein Satz und noch einer und daraus dann eine Legende oder eine Erinnerung an das, was sie war, ein Stück ihrer Geschichte. Das afrikanische Mädchen las Bird den Satz vor. Bird genoß den Unterricht fast so sehr wie die gemeinsamen Abende mit Gilda, die über die Jahre durch Gildas wachsende Ruhelosigkeit seltener geworden waren.
    Bisweilen zogen sich Gilda und Bird für einen Tag oder auch länger auf die Farm zurück, wo sie die Abende mit Spaziergängen, Ausritten oder Lesen zubrachten, wobei sie meist schwiegen und selten eine Frage diskutierten. Bisweilen machte Gilda sich allein zur Farm auf und ließ Bird besorgt und gereizt zurück. So auch an diesem Nachmittag. Bird zog den Unterricht in die Länge. Sie fühlte sich von Ungewißheit bedrängt und wollte von der Sicherheit, die ihr die Lernbegierde des Mädchens vermittelte, nicht lassen. Sie trug ihr auf, die gemeinsam geschriebenen Worte noch einmal laut vom Papier abzulesen. Der unsichere Klang in der Stimme des Mädchens öffnete Birds Seele. Sie erhob sich plötzlich und trat ans Fenster.
    »Wenn du die Worte verstehst, lies weiter, wenn nicht, halte ein«, sagte sie, den Rücken zum Raum gewandt. Sie zog die Vorhänge auf, befestigte sie mit der dazugehörigen

Weitere Kostenlose Bücher