anderbookz Short Story Compilation II
terrassenförmigen Wohnhauses, hatte einen sechsmal sechs Meter großen Balkon. Dieser und der Ausblick über den Park gaben letztlich den Ausschlag, obwohl die Miete damals über unsere Verhältnisse hinausging. Es war ein hübsches Gebäude und wurde zu einer Zeit gebaut, als die Architekten die Decken tiefer legten und im allgemeinen mit Verzierungen sparten. Da waren ich und Dorcas, Betsy und Bill und Dorcas’ Schwester Rosemary. Später zog vorübergehend auch Rosemarys Freund Gene zu uns. Wir entsprachen nicht gerade eurer durchschnittlichen Kleinfamilie, und wenn ich hinzufüge, daß wir uns eigentlich nie richtig in den Haaren lagen, könnt ihr euch ungefähr ausmalen, wie groß die Wohnung und wie hoch die Miete war.
Lange Zeit war von nebenan, aus 6-H, nichts Ungewöhnliches zu hören. Manchmal schlugen wir an die Wand und brüllten Dinge wie: »Heh, da drüben, haltet mal die Luft an!» Aber weil sich auf unsere Rufe nie eine Antwort meldete, kümmerten wir uns nicht weiter. Immerhin hielt sich der Lärm von drüben immer in Grenzen, und deshalb hörten wir darüber hinweg. Im Vergleich zu einem befreundeten Pianisten, der in der Stadt in einer Parterrewohnung lebte, die an eine Druckerei angrenzte, wähnten wir uns äußerst glücklich.
Schließlich fanden wir dann doch heraus, wer beziehungsweise was in der Nachbarwohnung hauste. Eines Tages hatte Dorcas ihren Schlüssel in der Wohnung gelassen und mußte mit ihren Einkaufstüten im Flur warten, bis ich von der Arbeit zurückkehrte. Aus 6-H kamen zwei Sanitäter mit einer Trage, auf der, schwer blutend und stöhnend, ein Verletzter lag. Sie eilten davon, ohne die Wohnungstür hinter sich zuzuziehen. Stück für Stück schwang die Tür nach innen auf, bis für Dorcas die gesamte Wohnung einzusehen war. Es fand ein Scharmützel darin statt. Dorcas hatte vom Zusehen bald genug, ging nach unten und wartete in der Halle, was sie von vornherein hätte tun sollen. Doch den Kommentar ersparte ich ihr, zumal sie, nach dem, was sie gesehen hatte, mit den Nerven völlig runter war und eine schiefe Bemerkung von mir nicht verkraftet hätte.
Nach diesem Vorfall stiegen wir immer vorsichtig aus dem Fahrstuhl aus, weil damit zu rechnen war, daß sich die Kampfhandlungen bis auf den Flur hinaus ausbreiten könnten. Eine Zeitlang verfolgte ich die Nachrichten ein wenig aufmerksamer und versuchte, Zusammenhänge und Ursachen besser zu verstehen, doch inzwischen war der Krieg schon so lange in Gang und derart kompliziert geworden, daß alle Berichte darüber keinen Sinn mehr zu machen schienen.
Nach dieser ersten, eher zufälligen Begegnung schaute Dorcas geflissentlich in die andere Richtung, worin ich ihr schließlich folgte, ohne es zu wollen. Ich finde Kriege nicht besonders interessant, es sei denn, man nimmt selber daran teil. Außerdem sind Kriege - wenn ich mir dieses Pauschalurteil erlauben darf - ziemlich unpersönlich. Das war jedenfalls unsere Erfahrung. Wir lernten nie einen Bewohner von 6-H kennen, obwohl sie uns mit der Zeit natürlich beim Ein-und Ausgehen auffielen. Sie waren allesamt zu sehr mit ihrem Krieg beschäftigt und schienen weder Zeit noch Neigung zu haben, nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Bisweilen wurde im Fahrstuhl ein ›Hallo‹ gewechselt, aber das war es dann auch. Nun, wenn man’s recht bedenkt, ist gegen Unpersönlichkeit im Grunde auch nichts einzuwenden. In städtischer Umgebung, wo jeder dem anderen dicht auf der Pelle hängt, kann das sogar ein Vorteil sein.
In bezug auf Apartment 6-H verfuhren wir jahrelang nach dem Prinzip ›leben und leben lassen‹. Betsy machte eine (glücklicherweise nur kurze) Pferdephase durch und versteifte sich dann aufs Ballettanzen. Bill tauchte ein in eine private Wunderwelt aus elektronischen Bauteilen, und wir fragten uns voreiligerweise, ob ein kleines Genie aus unseren Reihen hervortreten könnte. Dorcas brach ihre Analyse ab und fing an, Bücher von Walter Scott zu lesen. Wir verbrachten eine Woche in Aruba, eine Woche in Catskills zusammen mit den Kindern, wieder eine Woche in Aruba und dann noch mal in Aruba. Aruba ist herrlich. Für zwei Jahre jedenfalls.
Zwischenzeitlich hatte Rosemary über den Freund eines Freundes Gene kennengelernt, und nach einer angemessenen Phase des sich gegenseitigen Beschnupperns zog er zu Rosemary und - ipso facto - auch zu uns. Gene sah gut aus, hatte gute Manieren, einen guten Job am Schalter einer Fluggesellschaft (was unsere Aruba-Reisen zum
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