anderbookz Short Story Compilation II
Augen.
»Ich bin auf einem Weg, den ich mir selbst ausgesucht habe, und es ist der richtige. Nun mußt du deinen Weg bestimmen, so wie damals, als du in Mississippi von der Plantage flüchtetest. Unterwegs hätte dich der Tod treffen können oder Schlimmeres, aber du wußtest, dieser Weg war dein Weg. Wirst du mir vertrauen?« Gilda lehnte sich zurück, schloß die Augen und entließ das Mädchen aus ihrem hypnotischen Blick.
Als würden Gildas geschlossene Lider den Feuerschein aussperren, wurde dem Mädchen kalt, und sie fürchtete sich einen Moment. Das Zimmer barst auf einmal von Schatten und einer unnatürlichen Stille. Dann schwand ihre Verwirrung: Mehr als die Worte selbst formten sich die Höhen und Tiefen, Rhythmus und Klang von Gildas Stimme zu einem Versprechen, nach dem sich das Mädchen sehnte. Es war mehr als einfach nur ein langes Leben. Ein gewaltiges Abenteuer, für das ihr Flug in die Freiheit sie nur im Ansatz vorbereitet hatte.
»Ja«, flüsterte sie.
Gilda schlug die Augen auf, und das Mädchen fühlte sich in einen Energiestrom hineingezogen. Ihre Arme und Beine wurden schwach. Sie hörte ein leises Singen wie von ihrer Mutter. Gefangen in Gildas Blick. Unbeweglich. Dennoch fühlte sie sich frei, und sie hätte gelacht, hätte sie die Kraft gehabt, den Mund zu öffnen. Kaum spürte sie, wie Gilda sie in ihre Arme nahm. Sie schloß die Augen, und ihre Anspannung wich unter der Berührung von Gildas Hand. Wie ein Kind sich schutzsuchend an die Mutter schmiegt, kauerte sich das Mädchen in Gildas Schoß.
Sie spürte ein scharfes Brennen am Hals und vernahm ein sanftes Lied. Gilda küßte sie auf die Stirn und auf den Schmerz und berührte sie in ihrem tiefsten Innern. Tiefer und tiefer versank das Mädchen in einem Traum, die Worte »Und nun mußt du trinken« kaum noch vernehmend. Gilda hielt den Kopf des Mädchens an ihren Busen, ritzte sich die Haut über der Brust an und preßte die Lippen des Mädchens an den rinnenden Lebenssaft.
Das Rinnsal wurde zur Flut, schwächte Gilda. Sie schob das saugende Mädchen weg und schloß die Wunde. Bis das Feuer verlosch, verharrte sie regungslos mit dem Mädchen in ihren Armen. Als die Sonne sich in den abgedunkelten Raum stahl, trug Gilda das Mädchen in das Zimmer, in dem sie sich tagsüber mit Bird zur Ruhe legte. Bei Anbruch der Abenddämmerung erwachte sie, und immer noch hielt sie das Mädchen in ihren Armen. Sie schlüpfte aus dem Bett und heizte den großen Wasserkessel in der Küche. Ins Schlafgemach zurückgekehrt, kleidete sie sich weiter an. Das Mädchen sah ihr schweigend zu.
»Mir ist nicht gut.« Die Übelkeit nahm zu.
»Bald geht es dir besser.« Gilda trug sie die Treppe hinunter vors Haus. Die kalte Nachtluft ließ das Mädchen in ihrem dünnen Hemd zittern. Gilda hielt ihr den Kopf, hieß sie sich auf die Treppe setzen und holte ein feuchtes Tuch, mit dem sie ihr Mund und Gesicht abwischte. Sie brachte das Mädchen in die Küche, half ihr beim Ausziehen und hob sie in die große Wanne neben dem Küchentisch. Mit ihren kräftigen schmalen Händen seifte Gilda sie ein, wusch sie und massierte sie, ein Lied aus ihrer Kinderzeit summend, bis das Mädchen sich allmählich entspannte und Angst und Schmerz schwanden. Sie zog dem Mädchen ein spitzenbesetztes, nach Lavendel duftendes Nachthemd aus ihrer eigenen Garderobe an und steckte sie wieder ins Bett.
»Bald wird Bird kommen. Fürchte dich nicht. Du wirst sie bitten, den Kreis zu schließen. Zu unserer Tochter wird sie dich machen. Kannst du dir das merken?«
»Ja«, sagte das Mädchen mit schwacher Stimme.
»Später, wenn dir die vergangene Zeit felsenschwer auf den Schultern lastet, solltest du daran denken, daß wir aus Liebe so gehandelt haben.«
Unbehagen und Hunger schwanden unter Gildas feurigem, ins Weite gerichteten Blick, und das Mädchen wurde schläfrig. Gilda drückte ihr einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn. Sie fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.
Sie erwachte abrupt: Bird stand neben ihrem Bett, ihre grimmige Miene verdüsterte den Raum, ihre Augen waren trocken und starr.
»Wann ist sie von dir fort?« Die Stimme klang mühevoll beherrscht, ihre Hände zitterten, krampften sich um den zerknitterten Brief.
Hab keine Angst, hatte Gilda gesagt, und das Mädchen verspürte keine Angst, nur Neugier, was geschehen würde. »Vor langer Zeit, glaube ich. Vor Anbruch der Dunkelheit. Sie trug Hosen und Mantel. Du würdest den Kreis vollenden, sagte sie. Das sollte ich
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