anderbookz Short Story Compilation II
mit den Fingerspitzen. »Du siehst wundervoll aus!« sagte sie. »Wie ein großer Mandarin!«
»Und du wie eine Kaiserin«, gab er zurück. »Aus einem fernen Land, Persien oder Indien, die zu einem zeremoniellen Besuch beim Sohn des Himmels weilt.« Er empfand plötzlich ein starkes Gefühl der Zuneigung für sie. Er zog sie zärtlich an sich, so nah es ihre sorgfältig ausgearbeiteten Kostüme zuließen, aber als er sich vorbeugte, um ihr einen leichten, liebevollen Kuß auf die Nasenspitze zu geben, da bot sich ihm unerwartet ein fremder, irritierender Anblick; die Schicht aus weißer Schminke, mit der sie sich zurechtgemacht hatte, schien auf seltsame Weise die Unregelmäßigkeiten ihrer Haut eher zu betonen als zu vertuschen und dabei Einzelheiten herauszuarbeiten und hervorzuheben, die er früher nie bemerkt hatte. Er sah das Netzwerk feiner Linien, die von den Augenwinkeln ausgingen und den eindeutigen Beginn einer tiefen Falte in ihrer Wange direkt links neben ihrem Mund, und er ahnte sogar die feinen Fältchen, die durch das Runzeln der Stirn entstanden. Er erschrak. Sie hatte sich also nicht ohne Grund so verzweifelt im Spiegel betrachtet. Das Alter meldete in der Tat seine Ansprüche auf sie an, ungeachtet seiner Überzeugung über die Alterslosigkeit dieser Menschen. Aber bereits einen Augenblick später war er sich nicht mehr sicher. Gioia wandte sich, trat langsam einen kleinen Schritt zurück - sein starrer Blick mußte sie beunruhigt haben -, und die Linien, die er zu sehen geglaubt hatte, waren verschwunden. Er suchte danach, aber er fand nur wieder mädchenhafte Zartheit. Ein Trick des Lichts? Eine freie Erfindung überanstrengter Phantasie? Er war völlig verwirrt.
»Komm«, sagte sie. »Wir dürfen den Kaiser nicht warten lassen.«
Fünf schnurrbärtige Krieger in wattierten weißen Kampfanzügen und sieben Musikanten, die Zimbeln und Flöten spielten, geleiteten sie in die Halle des Höchsten Wesens. Dort fanden sie den ganzen Hof versammelt, Prinzen und Minister, hohe Beamte, gelbgekleidete Mönche und einen Schwarm kaiserlicher Konkubinen. Auf einem Ehrenplatz, rechts neben den Herrscherthronen, die sich wie vergoldete Schaffotts über allem erhoben, saß eine kleine Gruppe strengblickender Männer in fremden Gewändern; die Gesandten aus Rom und Byzanz, aus Arabien und Syrien, aus Korea, Japan, Tibet und Turkestan. Aus emaillierten Kohlebecken stiegen Düfte auf. Ein Dichter sang mit leiser, näselnder Stimme eine Melodie und begleitete sich dabei auf einer zierlichen Harfe. Dann erschienen der Kaiser und die Kaiserin, zwei winzige, alte Menschen, Wachsfiguren gleich, die sich mit endloser Langsamkeit bewegten und deren Schritte nicht größer waren als die eines Kindes. Als der kleine Kaiser Platz genommen hatte - er wirkte dort oben wie eine Puppe, alt, ausgelaugt, eingeschrumpft und trotz allem noch immer eine Gestalt von außerordentlicher Macht -, streckte er beide Hände aus, und riesige Gongs ertönten. Es war eine Szene voll eindrucksvoller Pracht, großartig und überwältigend.
All das waren Temporären, stellte Phillips plötzlich fest. Er sah nur eine Handvoll Bürger - acht, zehn vielleicht, höchstens ein Dutzend - hier und dort über den riesengroßen Raum verteilt. Er erkannte sie an ihren dunklen, feuchten, weisen Augen. Sie beobachteten nicht nur die kaiserliche Vorführung, sondern auch Gioia und ihn, und Gioia nickte ihnen mit einem verstohlenen Lächeln kaum wahrnehmbar zu und zeigte, daß sie ihre Gegenwart und ihr Interesse bemerkte. Aber diese wenigen waren hier die einzigen selbständig handelnden Lebewesen. Der Rest, der gesamte prunkvolle Hof, die großen Mandarine und Paladine, die Beamten, die kichernden Konkubinen, die stolzen und prächtigen Gesandten, der alte Kaiser und die Kaiserin, waren nur Bestandteil dieser Szene. Hatte es je zuvor in der Welt eine derartig umfassende Form der Unterhaltung gegeben? All dieser Pomp, all die Umzüge, die jeden Abend zur Unterhaltung für ein Dutzend Zuschauer aufgeführt wurden?
Beim Bankett setzte sich die kleine Gruppe von Bürgern getrennt an den Tisch, dessen runde Onyx-Platte mit durchscheinender, grüner Seide bedeckt war. Es stellte sich heraus, daß es alles in allem nur sechzehn waren - Gioia mitgerechnet. Gioia schien sie alle zu kennen, obwohl, soweit er das beurteilen konnte, keiner ein Mitglied ihrer Gruppe war, die er schon getroffen hatte. Sie unternahm keinen Versuch, jemanden vorzustellen. Aber es war
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