anderbookz Short Story Compilation II
seine Finger dicht darüber schloß. Als Phillips ein paar Augenblicke später seine Faust öffnete, fand er sie voller grauer, unregelmäßiger Perlen. Gioia nahm sie und warf sie in die Luft; sie barsten wie explodierende Feuerwerkskörper und versprühten ein vielfarbiges Licht. Ein wenig später merkte Phillips, daß er nicht länger sein Obergewand trug oder sein weißes, seidenes Unterkleid. Auch Gioia war nackt, sie zog ihn sanft auf einen Teppich aus feuchtem, blauen Moos, wo sie sich bis zum Morgengrauen liebten, leidenschaftlich zuerst, dann langsamer, verhalten, verträumt. Bei Sonnenaufgang sah er sie zärtlich an und stellte fest, daß etwas nicht in Ordnung war.
»Gioia«, fragte er zweifelnd.
Sie lächelte. »Ah, nein, Gioia ist diese Nacht mit Fenimon zusammen. Ich bin Belilala.«
»Mit Fenimon?«
»Die beiden sind alte Freunde. Sie hatte ihn jahrelang nicht gesehen.«
»Oh, ich verstehe. Und du bist ...?«
»Belilala«, wiederholte sie und berührte dabei mit den Fingerspitzen seine Wange.
Es war nichts Ungewöhnliches daran, sagte Belilala. Es geschah dauernd; das einzig Ungewöhnliche daran war, daß es ihm nicht früher passiert war. Paare bildeten sich, reisten eine Weile gemeinsam, entfernten sich voneinander und kamen vielleicht wieder zusammen. Es bedeutete nicht, daß Gioia ihn für immer verlassen hatte. Es hieß nur, daß sie jetzt beschlossen hatte, bei Fenimon zu sein. Gioia würde zurückkommen. Und in der Zwischenzeit würde er nicht allein sein. »Wir haben uns bereits in New Chicago getroffen«, meinte Belilala. »Und dann haben wir uns auch in Timbuktu gesehen. Hast du es vergessen? Oh, ja, ich sehe, du hast es vergessen.« Sie lachte entzückend, sie schien kein bißchen beleidigt zu sein.
Sie hätte Gioias Schwester sein können, so ähnlich sahen sich die beiden. Aber schließlich sahen für ihn alle Bürger mehr oder weniger gleich aus. Belilala strahlte eine Ruhe aus, eine tiefe Ausgeglichenheit, die Gioia, immer eifrig und unbeständig und immer ungeduldig, nicht besessen hatte. Wenn er die belebten Straßen von Ch’ang-An mit Belilala entlangspazierte, dann spürte er bei ihr nicht Gioias ruheloses, fieberhaftes Verlangen, immer zu wissen, was hinter einer Sache lag - und dahinter - und wieder dahinter. Als sie den Hsing-Ch’ing-Palast besuchten, hätte Gioia bereits nach fünf Minuten nach den Hinweisschildern zum Brunnen von Hsuan-Tsung oder zur Pagode der Wildgänse gesucht. Nicht so Belilala. Sie war offensichtlich davon überzeugt, daß genug Zeit blieb, alles zu sehen, was sie wollte. Es gab Tage, da beschloß Belilala, überhaupt nicht auszugehen, sondern war damit zufrieden, in ihrem Pavillon zu bleiben und allein ein Spiel mit flachen Porzellansteinen zu spielen oder die Blumen des Gartens zu betrachten.
Er entdeckte, daß er seltsamerweise die Ruhepause von Gioias ausgeprägtem, allesverschlingendem Verlangen genoß, und dennoch sehnte er sich nach ihrer Rückkehr. Belilala - schön, freundlich, ruhig und geduldig - war zu perfekt für ihn. Sie erschien ihm unwirklich in ihrer strahlenden Sorglosigkeit, ganz wie eine dieser Sung-Vasen, die zu makellos wirken, als daß sie von menschlichen Händen geformt und bearbeitet sein könnten. Es war etwas Seelenloses an ihr, eine fehlerfreie Oberfläche, aber darunter war nur Leere. Belilala hätte fast eine Temporäre sein können, dachte er, aber er wußte natürlich, daß das nicht stimmte. Er konnte mit ihr die Pavillons und Paläste von Ch’ang-An erkunden, er konnte angenehme Konversation mit ihr führen, während sie aßen, er konnte es selbstverständlich genießen, mit ihr zu schlafen, aber er konnte sie nicht lieben oder auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen. Es war unmöglich, sich vorzustellen, daß Belilala besorgt im Spiegel nach grauen Haaren oder Falten suchen würde - Belilala würde niemals auch nur einen Tag älter werden, doch sie hätte auch nie jünger sein können. Die Perfektion bewegt sich nicht entlang einer Zeitachse. Aber die Perfektion von Belilalas makellosem Äußeren machte es ihm unmöglich, zu ihrem Innern vorzudringen. Gioia war verletzbarer, viel offensichtlicher fehlerhaft - ihre Ruhelosigkeit, ihre Launenhaftigkeit, ihre Eitelkeit, ihre Ängste -, und daher war sie viel zugänglicher für sein eigenes, äußerst unvollkommenes Empfindungsvermögen aus dem 20. Jahrhundert.
Gelegentlich sah er Gioia, wenn er die Stadt durchstreifte, oder er glaubte es zumindest. Er
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