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anderbookz Short Story Compilation II

anderbookz Short Story Compilation II

Titel: anderbookz Short Story Compilation II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates , Peter Straub , Jewelle Gomez , Thomas M. Disch , Ian Watson , Robert Silverberg
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werden sollte. Lag der Grund hierfür darin, daß er ihr Geliebter geworden war? Oder war es genau umgekehrt: war er ihr Geliebter geworden, weil sie kein vollwertiges Mitglied ihrer sozialen Schicht war?
    Es brachte ihm wenigstens einen Vorteil, daß er ein Primitiver war: er hatte auf Partys etwas, worüber er reden konnte. »Erzähl uns vom Krieg«, forderten sie ihn auf. »Erzähl uns von den Wahlen. Von Geld. Von Krankheiten.« Sie wollten alles wissen, obwohl sie nicht übermäßig aufmerksam zuzuhören schienen; ihre Blicke wurden schnell abwesend. Dennoch fragten sie weiter. Er beschrieb ihnen Verkehrsstaus und Politik, Deodorants und Vitamintabletten. Er erzählte ihnen von Zigaretten, Zeitungen, Untergrundbahnen, Telefonbüchern, Kreditkarten und Basketball.
    »Welches war deine Stadt?« fragten sie. New York, gab er zur Antwort. »Und wann war das? Sagtest du, im siebten Jahrhundert?« Im zwanzigsten, berichtigte er. »Das World Trade Center, das Empire State Building, die Kathedrale von St. John, wie faszinierend! Das Yankee-Stadion und die Verrazzano-Brücke. Wir werden das alles bauen. Aber zuerst ist Mohenjo-daro dran. Und dann, glaube ich, Konstantinopel. Hatte deine Stadt viele Einwohner?« Sieben Millionen, sagte er. Schon allein in den fünf inneren Stadtbezirken. Sie nickten, lächelten freundlich, nicht im geringsten beeindruckt durch diese Zahl.
    Sieben Millionen, siebzig Millionen, für sie war das alles ohne Bedeutung, das spürte er. Sie würden einfach so viele Temporären hervorbringen wie nötig. Er fragte sich, wie gut ihnen New York wohl gelingen würde. Alexandrien oder Asgard konnte er nicht wirklich beurteilen. Hier konnten sie Einhörner und geflügelte Pferde im Zoo zeigen oder lebende Sphinxe, die den Bordstein entlangschlichen, und es berührte ihn nicht. Ihr verspieltes Alexandrien war so gut wie das historische oder besser. Aber wie traurig, wie desillusionierend würde es sein, wenn in dem New York, das sie heraufbeschworen, Greenwich Village in der Oberstadt läge und Times Square in der Bronx, und wenn die New Yorker zuvorkommend und höflich wären und den honigsüßen Akzent von Savannah oder New Orleans hätten. Sehr wahrscheinlich waren sie einfach nur freundlich, wenn sie davon sprachen, sein New York zu verwirklichen. Sie hatten schließlich die ganze riesige Palette der Vergangenheit zur Auswahl: Ninive, das Memphis der Pharaonen, das London zur Zeit Viktorias, Shakespeare oder Richard III., das Florenz der Medici, das Paris von Abaelard und Heloïse oder das Paris von Ludwig XIV., Montezumas Tenochtitlan oder Atahualpas Cuzco, Damaskus, Sankt Petersburg, Babylon oder Troja.
    Und dann gab es da noch Städte wie New Chicago, aus einer Zeit, die er noch gar nicht kannte, die aber für sie schon ferne Vergangenheit war. Bei einem derartigen Reichtum, einer derartigen Unendlichkeit von Wahlmöglichkeiten würde selbst das gigantische New York lange warten müssen, bis es an der Reihe war. Würde er noch unter ihnen sein, wenn sie so weit waren? Es könnte sein, daß er sie bis dahin langweilte und sie ihn in seine eigene Zeit zurückgebracht hätten. Oder wahrscheinlich wäre er einfach alt geworden und längst gestorben. Er nahm an, daß er auch hier sterben würde, obwohl anscheinend kein anderer von diesem Schicksal ereilt wurde.

    Den ganzen Tag lang blies der Wind von Norden. Riesige Ibisschwärme zogen auf der Flucht vor der Hitze im Innern mit lang ausgestreckten schwarzen Hälsen und dünnen Beinen über die Stadt. Ihre Schreie klangen vom Himmel herab. Die heiligen Vögel landeten zu Tausenden, trippelten in jeder Querstraße herum und stürzten sich auf Spinnen und Käfer, auf Mäuse und auf den Abfall der Metzgerläden und Bäckereien. Sie waren schön anzusehen, aber auf ärgerliche Weise allgegenwärtig, und sie spritzten ihren Kot über die Marmorgebäude; jeden Morgen waren Heerscharen von Temporären dabei, ihn sorgfältig abzuwaschen. Gioia sprach jetzt wenig mit ihm. Sie wirkte kalt, zurückgezogen, deprimiert, und es war etwas Unwirkliches an ihr, als würde sie allmählich immer unsichtbarer. Er fühlte, daß es ein Eindringen in ihre Privatsphäre bedeuten würde, wenn er sie fragte, was los sei. Vielleicht war es nur Ruhelosigkeit. Sie wurde religiös und brachte kostbare Opfer in den Tempeln von Serapis, Isis, Poseidon und Pan. Sie besuchte die Totenstadt westlich von Alexandrien, um Kränze auf die Gräber in den Katakomben zu legen. An einem

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