Anderer Welten Kind (German Edition)
– und manchmal seinen – und dem, was öffentlich geäußert wurde, ein himmelweiter Unterschied lag. Irgendwie war das Thema auch für ihn durch, nicht so offensichtlich wie für Christian, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, Frau Sänger davon zu erzählen, wie sie „Heil Hitler“ brüllend mit ausgestrecktem Arm in Karlburg Panzer-Meyer gefeiert hatten. Ganz und gar nicht, denn Frau Sänger hatte einmal erzählt, so en passant, dass sie ihren Mann im Schalmeienzug der Sozis kennengelernt hatte, ’36, und mit Hitler nichts am Hut hatte. „Stillgehalten haben wir“, sagte sie, „bloß nicht auffallen. Und am Anfang, schlecht war es ja wirklich nicht, mit der Arbeit und so, und dass man wieder wer war.“
„Dein Vater hat gesagt, dass du das alte Zeug nicht mehr willst“, sagte Herbert Kremer, wobei er „das alte Zeug“ Silbe für Silbe betonte.
„Onkel Herbert, so habe ich das gar nicht gesagt.“ Mein Gott, fällt mir denn gar nichts ein?, dachte er.
„Wie hast du es denn gesagt, Christian?“ Hildegard nickte ihm aufmunternd zu. „Ich konnte mir das auch nicht vorstellen.“
„Ich … ich … ich weiß nicht.“ Dann fügte er leise hinzu: „Stefan darf alles und ich nichts.“
Herbert runzelte die Stirn. Was sollte denn das schon wieder bedeuten? Aber Hildegard tätschelte Christians Hand. Sie hatte genau verstanden, was der Junge meinte. Sie kannte Fritz Lorenz’ Rigorosität und beide Familien hatten sich schon oft in den Köppen wegen der Kindererziehung. Ingeborg verteidigte die Ansichten ihres Mannes, aber mit der Defensivhaltung, wie sie es tat, kaschierte sie mehr Angst vor ihrem Mann denn Übereinstimmung.
„Ihr verhätschelt euren Jungen“, war Fritz Lorenz’ Standardargument.
Darum ging es also. Christian fühlte sich wie in einem Gefängnis. Es war reine jugendliche Auflehnung.
„Ich glaub, ich weiß, was du meinst“, sagte sie. „Du willst auch diese Negermusik hören und Nietenhosen tragen. Ich versteh zwar nichts davon und ich finde sie furchtbar, aber als wir jung waren, haben meine Eltern auch nicht alles verstanden, was mir gefallen hatte. Wenn ich noch einmal mit deinem Vater rede, dass er nicht immer alles verbieten soll, fährst du dann mit?“
Christian gab sich geschlagen. Tante Hildegard war so nett. Sie hatte so viel Verständnis und hatte ihm allen Wind aus den Segeln genommen. Er konnte jetzt unmöglich Nein sagen. Die Kraft hatte er nicht mehr nach diesem Tag. Für heute reichte es. Helga anzuführen, riskierte er nicht, vielleicht würde Stefan ihm in den Rücken fallen.
Er nickte stumm. Herbert Kremer schaute skeptisch, ließ es aber dabei bewenden. Stefan musterte seinen Freund, grinste und sagte, an seine Eltern gewandt: „Wir gehen noch ein wenig Negermusik hören.“ Tante Hildegard lächelte und Onkel Herbert verdrehte die Augen.
12. Kapitel
Heiligabend 1957. Der Schnee der letzten Woche war weggetaut, die nasskalte Witterung geblieben. Draußen war es feucht und unangenehm und die Menschen schauten enttäuscht zum Himmel, weil es auch dieses Jahr keine weiße Weihnacht geben würde. In einigen Winkeln türmte sich noch grauschwarzer Matsch, die Straßen glänzten matt, die ursprünglichen Farben der Busse und Autos waren bis hoch zu den Fenstern durch einen schmutzigen Film belegt, der bei jeder Fahrt durch eine der schwarzen Pfützen mit einer neuen Schicht übersprüht wurde. Die Fahrradfahrer waren machtlos gegen die dunklen Sprenkel, die ihre Schuhe und Hosenbeine übersäten.
Die Stadtteile Brandenbaum und Eichholz wirkten besonders festlich. Überall in den Fenstern leuchteten Kerzen. Die Plakate und Aufrufe des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“ hatten mit der Parole „Denk an drüben!“ Wirkung gezeigt und die Menschen kamen der Aufforderung nach, zu Silvester Kerzen in die Fenster zu stellen, als Mahnung und Erinnerung an Unterdrückung und Unfreiheit in der SBZ. In Brandenbaum, Schlutup und Eichholz zündeten die Einwohner schon Heiligabend die Kerzen an, stille Übereinkunft darüber, dass niemand so nahe am Eisernen Vorhang lebte wie sie. Die Menschen drüben hinter der Demarkationslinie in Eichholz hätten Hunderte von beleuchteten Fenstern sehen können. Was eignete sich mehr zum Symbol?
Socken. Hausschuhe. Ein dunkelroter Norwegerpullover mit weißem Brustband, auf dem sich eine Reihe schwarzer Rentiere mit sternförmigen Eiskristallen abwechselte. Ein baumwollener Schlafanzug, wenigstens in einem satten
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