Anderer Welten Kind (German Edition)
behandeln?“, eröffnete sie ihm, kaum dass sie die Tür geschlossen hatte. „Bist du nicht ganz bei Trost? Und du wagst dich wieder hierher? Erst blamierst du mich bis auf die Knochen! Wie stand ich denn da bei deiner blöden Frage! Und was sollte der Affentanz in der Pause? Bist du so feige, dass du mir nicht klipp und klar sagen kannst, dass du nicht mit mir gehen willst? Was willst du eigentlich noch? Glaub bloß nicht, dass ich dir hinterherlaufe oder deinetwegen heule!“
Sie einfach in den Arm zu nehmen und fest zu drücken, so wie es Stefan vorgeschlagen hatte, war eine Schnapsidee gewesen. Er hätte es wissen müssen. Doch nicht mit Helga! Er blieb wie angewurzelt stehen. Überwältigt und schon geschlagen. Sie hatte genau den Sinn dessen begriffen, was er gefragt hatte. Als ihm das bewusst wurde, erschrak er über das Ausmaß seiner Zurückweisung und noch mehr darüber, dass sie es wusste. Er hatte ihr praktisch vor der gesamten Klasse den Laufpass gegeben. Ausgerechnet er, dem Abweisungen und Ablehnungen so vertraut waren wie eine zweite Haut!
„Das war dumm von mir“, sagte er ganz leise, fast nuschelnd. „Wenn du mich nicht mehr willst …“, er beendete den Satz nicht und fuhr nach einer kleinen Pause, nun etwas lauter, mutiger, fort. „Ich habe erst bei der Frage gemerkt, dass ich dir damit wehtue, und dann konnte ich nicht mehr zurück.“
Über die Sache selbst verlor er kein Wort.
Beide sagten eine Weile nichts. Sie schwiegen dieses Schweigen, das entweder die Versöhnung oder das Ende einleitet. Oder, wenn es nicht durchbrochen wird, ein anderes Schweigen auslöst, das ihn schließlich zum Zimmer heraustreiben und beide für immer miteinander verstummen lassen würde.
Helga saß auf dem Bett, die Hände lagen in ihrem Schoß, die Finger waren verschränkt. Sie sprach fast zu sich selber, den Kopf gesenkt: „Meinst du das im Ernst? Ich weiß nicht, was ich denken soll.“
Christian, der nicht genau einordnen konnte, was er im Ernst gemeint haben sollte, die Frage in der Schule oder den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, sagte: „Ich hätte mich gar nicht melden sollen, das war komplett idiotisch.“
Er nahm allen Mut zusammen und sagte: „Ich möchte dich nicht verlieren.“
Helga nickte und sagte: „Ich brauch noch Zeit. Jetzt musst du gehen. Wir sehen uns morgen in der Schule.“
Am nächsten Tag begrüßte sie Christian mit einem Küsschen. Sie verabredeten sich für den zweiten Weihnachtstag, um zusammen auf das Riverboat zu gehen. Die Erleichterung war beiden ins Gesicht geschrieben.
Nach dem Kirchgang und den traditionellen Blinis mit Sauerrahm und der Rote-Bete-Suppe mit den Heringsstücken saß die Familie Lorenz zusammen im Wohnzimmer, beschaute den Weihnachtsbaum, in dessen silbernen Kugeln sich die Kerzen spiegelten, las und spielte Mensch ärgere dich nicht. Günter war mit in der Kirche gewesen und saß nun neben Renate auf der Couch. Die Schallplatte mit den Weihnachtsliedern wurde wieder aufgelegt und bei Stille Nacht, heilige Nacht, von den Regensburger Domspatzen in die Herzen geträufelt, sangen alle mit. Ingeborg hatte eine schöne Altstimme, Renates Sopran klang falsch. Günter sang kräftig. Sogar Christian brummte mit. Fritz streichelte Ingeborgs Arm. Sie ließ ihn auf der Sessellehne liegen und zog ihn gegen ihren ersten Impuls nicht weg. Sie tranken alle ein Glas „Lübecker Rotspon“ aus der von-Melle-Kellerei, obwohl Ingeborg den Kröwer Nacktarsch lieber mochte. Der Rotwein war ihr zu trocken. Günter, der mit Bier groß geworden war, konnte Wein nichts abgewinnen, behielt es aber für sich und schnalzte genießerisch mit der Zunge. Viel redeten sie nicht. Es war, als wenn sie für den heutigen Abend stillschweigend Frieden geschlossen hätten, und keiner wollte daran rühren. Und obwohl es sicherlich nur ein Waffenstillstand war, der mehr Probleme verdeckte, als er löste, empfand die Familie Lorenz diese Pause als wohltuend, weil sich in ihr ein Kern dessen zeigte, wie sie auch sein konnte.
Ihre Hüfte fühlte sich gut an. Lässig, eine Hand in der Tasche, die andere um sie gelegt, der Ellenbogen am Tresen gab Halt, den Blick schweifen lassen. Helga schmiegte sich an ihn, einen Fuß über den anderen gesetzt. Auch sie umfasste ihn. Schaute sich ebenfalls um. Christian schnupperte an ihrem Haar, der Pferdeschwanz stand wie ein Schweif vom Hinterkopf ab, bevor er auf die Schulter fiel. Sie roch gut, frisch, Heugeruch. Der Schottenrock endete kurz
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