Anderer Welten Kind (German Edition)
unter dem Knie, die Kniestrümpfe ließen ein bisschen Haut frei.
Stefan kam gerade die Rutsche heruntergesaust, grinste, als er beinahe auf der Tanzfläche landete. Er stolperte nicht, hatte alles im Griff, leider aber keine Partnerin, also gesellte er sich zu ihnen. Chris O’Brien spielte mit seiner Band Dixieland. Der aus Trinidad Stammende mit dem irischen Namen lachte, wenn er nicht in sein Saxophon blies. Der Raum war randvoll mit Musik. Die Paare tanzten Dixie wie Swing. Christian kannte nur Foxtrott, vor, seit, seit, traute sich aber nicht. Das dunkel getäfelte Mitteldeck war gut gefüllt an diesem frühen Abend. Die meisten Paare, vielleicht ein bisschen älter als sie, tanzten, die anderen standen an der mit Messing verkleideten Bar herum, die die gesamte Wand zum Bug einnahm, und nuckelten an ihren Blunaflaschen und Biergläsern. Einige ältere Erwachsene hatten sich auch schon eingefunden, obwohl ihre Zeit erst begann, wenn das junge Gemüse um zweiundzwanzig Uhr verschwunden war. Rollkragenpullover beherrschten die männliche Szene. Stefan hatte natürlich einen schwarzen an, dazu ein dunkelgraues Jackett, sah sehr gut aus. Christians Anzug wirkte wie ein Konfirmationsanzug, schwerer dunkler Stoff, schmale Revers. Heute störte ihn das nicht, das weiße Nyltesthemd machte den Anzug wett. Es war so weiß, dass es beinahe leuchtete. Die gestärkten Kragenspitzen hatten zusätzlich Stäbchen, die Ärmel mit den eckigen, silbernen Manschettenknöpfen – tatsächlich ein Konfirmationsgeschenk – lugten hervor.
„Keine Krawatte“, hatte Helga gesagt, „lass den oberen Knopf auf.“
Die dunkelblaue Strickkrawatte blieb in der linken Hosentasche. Verwegen.
„Komm!“ Helga zog Christian auf die Tanzfläche. Die Band spielte eine Adaption von Charlie Parkers My Old Flame mit einem sehr freien Saxophon in einem sehr langsamen Tempo. Hölzern setzte Christian die Schritte, rechts, links, links, rechts, links, links. Helga passte sich an, schmiegte sich an, legte ihren Kopf an seine Schulter. Bewegungen minimalisierten sich, er spürte ihr Becken, ihre Brüste, seinen Schwanz, roch ihr Heuparfum. Dachte, dass sie ihn auch spüren musste, das Becken blieb an seinem Platz. Stefan schaute ihnen zu, Neid saß stumpf im Magen, breitete sich aus, das Lächeln gefror. Der Triumph, den er wegen seines Verhältnisses zu Frau Sänger in seinem Gespräch mit Christian ausgekostet hatte, löste sich ins Nichts auf. Mit ihr konnte er nirgends hin. Sie waren verdammt zu den Nachmittagen in ihrer Wohnung ohne die geringste Aussicht, irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Was nützte ihm hier sein Geheimnis? Bitter ist das, dachte er. Was will Helga überhaupt von dem? Sie ist klasse, sie kann jeden haben. Mich natürlich auch. Wie sie sich an ihn schmiegt. Die Augen geschlossen. Jetzt hat sie die Arme um seinen Hals geschlungen. Und Christian macht doch tatsächlich auch die Augen zu!
Er konnte seinen Blick nicht lösen. In diesem Augenblick schaute Helga ihn an und er schämte sich, fühlte sich erwischt, wurde rot, wusste nicht, wo er hinschauen sollte, drehte sich zur Bar und bestellte sich eine Afri-Cola, wäre am liebsten weg gewesen.
Das Stück war zu Ende und beide gesellten sich zu ihm. Sie hatten gerötete Wangen und hielten Händchen, bezogen sich flüsternd aufeinander. Stefan fühlte sich als fünftes Rad am Wagen. Als der Dixieland mit einem Wirbel auf dem Schlagzeug die neue Serie einleitete, schnappte sich Helga Stefan und sie fegten über die Tanzfläche. Helga war schlau.
Christian war glücklich. Und stolz, als er die beiden beobachtete. Alles war im Lot. Er fühlte sich plötzlich stark hier auf dem Riverboat, dem ehemaligen Transportschiff aus Beton, das noch keine einzige Seemeile aus eigener Kraft zurückgelegt hatte. Es sah aus wie ein richtiges Schiff, bis über die Toppen beflaggt, war ein richtiges Schiff, aber eben aus Beton. Früher, im Krieg, sollte es schwere Waffen transportieren, jetzt lag es vertäut unterhalb der Puppenbrücke und war bis zu den Masten mit Jazz beladen. Von der Geschichte wusste Christian aber nichts, nur dass es, seit es dort lag, ihn anzog, ihn geradezu elektrisierte, als wenn von ihm eine Initialzündung ausginge. Heute war er zum ersten Mal mit Helga hier und obwohl es auch ihr erstes Zusammentreffen nach der Versöhnung in der Schule war, fühlte er sich ihr nahe und spürte ihre Vorbehaltlosigkeit.
So kann es weitergehen, dachte er. Ihm fiel Ricky von Dülmen
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