Anderer Welten Kind (German Edition)
obwohl, interessiert hätte ihn schon so eine intime Innenansicht einer Frau.
Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wegen deiner Mutter mach dir mal keine Sorgen, die wird sich schon wieder einkriegen. Was meinst du, was hier los wäre, wenn mir das passiert wäre.“
Über Helga und Christians verkorkste Zweifel redeten sie am längsten. Stefan, der übrigens Helga scharf fand und ohne eine Sekunde zu zögern mit ihr gegangen wäre, Liebe hin oder her, riet dem Freund, schon morgen, wenn sie wieder nicht in der Schule wäre, zu ihr hinzufahren mit einem Herzen aus Lübecker Marzipan, das mögen Frauen, und gar nicht groß reden, sondern sie in die Arme nehmen und fest drücken. Alles andere würde sich ergeben.
„Du meinst, ohne was zu sagen? Ohne Entschuldigung, ohne gar nichts?“ Ein Herz aus Marzipan und sonst nichts? Er konnte sich nicht vorstellen, dass bei Helga diese Strategie verfinge.
Stefan war nun nicht gerade ein Spezialist in Frauenfragen, aber sein Gefühl sagte ihm, Christian würde es vermasseln, wenn er auch nur einen Erklärungsversuch runterstotterte. Dazu wäre ja später immer noch Zeit.
„Ja, genau so. Du sagt gar nichts. Dann sagst du wenigstens auch nichts Blödes.“
Christian kratzte sich am Kopf. So ganz passte ihm das nicht, aber er hatte auch keine andere Lösung anzubieten. Er fühlte sich für einen Augenblick unendlich erleichtert; endlich konnte er sich einmal die ganzen, oder zumindest die halben, Sorgen von der Seele reden, aber dann breitete sich in ihm doch wieder die alte Verzagtheit aus und er sackte förmlich in sich zusammen.
Christians Offenheit löste in Stefan den Wunsch aus, auch sein Geheimnis mit dem Freund zu teilen. Für ihn war es wie früher. Sie saßen beieinander und erzählten sich alles und die Nähe, die Stefan verspürte, ließ ihn nicht so genau hinschauen, so dass er Christians Schweigsamkeit und die gebeugte Haltung, mit der er auf dem Bett saß, für die Nachwehen der Beichte hielt. Er ahnte nichts von dem Panzer und der Distanz, die sich Christians wieder bemächtigt hatten, nichts von seinem verzweifelten Bemühen, seine wirklichen Geheimnisse unter Verschluss zu halten. Stefan bekam auch nicht mit, dass Christian schon wieder in seine Gedanken versunken war, als er ihm von Frau Sänger erzählte, seinen Ficks und der ungeheuren Lust, die sie ihm verschafften. Er war so begeistert, endlich bei Christian die wichtigste Geschichte seines Lebens loszuwerden, sie zu teilen und damit zu verdoppeln, dass er Christians Verhalten als pure Aufmerksamkeit nahm. Und als er Christian vor lauter Enthusiasmus beim „Zweimal, dreimal hintereinander, kannst du dir das vorstellen?“ auf die Schulter haute, erwachte Christian aus seiner Lethargie und nickte zustimmend und versuchte ein erstauntes „Echt?“ und „Mensch, Stefan!“
Nach außen waren sie die Freunde wie eh und je. Wer einen Blick in das Zimmer geworfen hätte, wäre zu diesem Ergebnis gelangt: Zwei Freunde, dicht beieinander, die Köpfe zusammengesteckt, ins Gespräch vertieft. Wie Hildegard Kremer, als sie die Tür nach einem kurzen Anklopfen öffnete und „Abendbrot, Jungs“ sagte, „wir essen im Wohnzimmer.“
Der Mord an der Nitribitt passte nicht so recht in die Atmosphäre der Wohlanständigkeit, die das Wohnzimmer in seinem überladenen Gelsenkirchener Barockstil verbreitete. Vor ein paar Tagen stand es in den Lübecker Nachrichten: Der Mörder der Nitribitt hat aus Bad Schwartau einen Brief an die Kriminalpolizei in Frankfurt geschrieben, dass er es war und wie er sie erwürgt hatte. Offensichtlich so detailliert, dass die Polizei den Brief für echt hielt und eine Großfahndung im Lübecker Raum ankündigte.
„Eine Edelprostituierte“, sagte Herbert Kremer, „sie hat so viel verdient, dass sie einen Mercedes 190 SL fahren konnte.“
Das schien ihn offensichtlich am meisten beeindruckt zu haben.
„Bei den Kunden“, sagte Stefan, der das Foto eingehend studiert hatte, wie sie mit übereinandergelegten Beinen halb in der Tür ihres Benz saß, den Rauch einer Zigarette ausstoßend, und nur mit einem Mantel bekleidet, der ihren Brustansatz offen zeigte. Das Gesicht halb spöttisch, auf jeden Fall sehr arrogant, seitlich vorgestreckt. Stefan hatte ganz genau hingeschaut.
Die Nitribitt, wie sie genannt wurde, beschäftigte die Republik und die Fantasien drehten sich vor allem darum, wie sie es wohl geschafft hatte, so reich zu werden.
„Geschäftsleute, Künstler und
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