Anderer Welten Kind (German Edition)
mehr als sechs Grad. Schnee- und Graupelschauer wechselten sich mit Regen und nieseligem Nebel ab. Die Weihnachtsbeleuchtung war noch nicht wieder entfernt worden und erstrahlte Abend für Abend in der Innenstadt nach den vielen Jahren der Dunkelheit, des Mangels und des Chaos. Die Menschen erfreuten sich des hellen Glanzes aus Tausenden von Glühbirnen und, obwohl die Marktstände verschwunden waren, trotzten sie dem Wetter, schlenderten durch die Breite Straße, die Krägen hochgeschlagen und die Regenschirme gegen den Wind in Stellung gebracht, und suchten in den Schaufenstern das, was unter den Gabentischen gefehlt hatte. Es war diese Zeit zwischen den Jahren, in der das Alte noch nicht beendet war und das Neue noch nicht angefangen hatte. Viele Menschen hatten Urlaub und Zeit totzuschlagen. Müßiggang lag nicht in ihrer Natur, was besonders einigen Männern anzuschauen war, die ihren Frauen mit sauertöpfischen Mienen hinterherkrebsten.
In den Lübecker Nachrichten stand, dass über dreißigtausend Pakete allein aus Lübeck in die Sowjetzone verschickt worden waren, ein Beitrag vor allem der in der Hansestadt gestrandeten Flüchtlinge, die derer gedachten, die in den Ostgebieten geblieben waren.
Helga und Christian hatten sich zusammen mit einigen Klassenkameraden den Vortrag von Pastor Erich Randisch in der Aula des Katharineums über Brasilien im farbigen Bild angehört und die bunten Fotos aus Rio de Janeiro, São Paulo, Curitiba oder Porto Alegre bestaunt und sich fest vorgenommen, die Städte eines Tages mit eigenen Augen zu sehen.
Es war ihr erstes Aufeinandertreffen nach dem Nachmittag mit Ricky und ihn überfielen immer noch Zustände der Scham und der Erregung. Christian hatte Angst, Helga würde sofort etwas merken. Deshalb gab er sich zwanghaft ungezwungen. Er hatte sich gleichzeitig geradezu nach ihr gesehnt. Es war die erste Nagelprobe, die er Händchen haltend meisterte. Sie hatten keine Gelegenheit, sich unter vier Augen auszutauschen, und er registrierte ungläubig, wie scheinbar selbstverständlich normal sie sich begegnen konnten. Es war nicht zu fassen. Er vermied es, mit ihr allein zu sein. Zum Abschied verabredeten sie sich für den nächsten Tag.
Die Passat, das Schwesterschiff der Pamir, hatte in Hamburg festgemacht, auch sie mit einer verrutschten Getreideladung, und sofort brandete die Diskussion über die Pamir wieder auf, deren Untergang im nächsten Monat im Lübecker Landgericht verhandelt werden sollte.
Der Film Einer kam durch mit Hardy Krüger war angelaufen und es bildeten sich lange Schlangen vor den Kinos. Einer, dem die Flucht aus Sibirien über die Behringstraße gelungen war, einer, in dem sich die Hoffnungen und Verzweiflungen einer ganzen Generation widerspiegelten.
Das Durchgangslager Friedland bei Göttingen registrierte den hunderttausendsten Aussiedler und der Volkswagen wurde über zwei Millionen Mal verkauft.
In dieser ganz normalen Welt hielt sich in Christian die Empfindung, an etwas Unwirklichem beteiligt gewesen zu sein, was man ihm unbedingt ansehen müsste. Er wunderte sich, dass die Welt nicht mit Blicken oder Gesten reagierte. Sie verhielt sich wie immer, drehte sich und nahm ihn nicht zur Kenntnis. Erst nach einer Weile konnte er seinen suchenden und misstrauischen Blick wieder einstellen. Seine Ängste hatten sich dennoch fest in ihm eingenistet.
Helga war ihm zugetan und ihr Streit hatte sich endgültig verflüchtigt. Sie waren viel zusammen. Christian besuchte sie oft und es trieb ihn, an ihr seine Normalität zu exerzieren. Er steigerte seine Bemühungen um sie, wurde eindeutiger in seinen Bewegungen, nicht geschickter, streichelte sie, bis sie sich ihm entzog, schnupperte an ihrem Hals, ihrem Haar und, wenn sie es nicht bemerkte, an ihren Achseln, als könnte ihr Duft ihn heilen. Er öffnete sich ihrem Frauengeruch, saugte ihn ein zu einem Verlangen, dessen Erfüllung er zunehmend durch direkte Gesten einforderte. Er begann bei den Küssen zu stöhnen, merkte nicht, dass er Ricky nachahmte. Er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Geschlecht. Sie ließ sie liegen, rührte keinen Finger. Aber er konnte nicht heraus aus seiner Haut, blieb eckig und stümperhaft. Helga wunderte sich, nahm sein verändertes Verhalten als Entscheidung für sie und tänzelte zwischen Abwehr und eigener Lust. Ihre Bereitschaft wuchs, sich ihm ganz hinzugeben.
Je offensiver Christian den Beweis seiner Normalität antrat, desto ängstlicher und misstrauischer
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