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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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an, ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen. Günter bot er bei dieser Gelegenheit das Du an, nachdem es ihm im Laufe des Abends schon mehrfach herausgerutscht war. Auf seiner Oberlippe hatte sich ein Schweißfilm gebildet.
    Nachdem sich alle schüchtern umarmt oder Hände schüttelnd und Schulter klopfend „Prosit Neujahr“ gewünscht, auf dem Balkon das Feuerwerk angeschaut, ohne selbst Knaller oder Raketen zu zünden – die Frauen empfanden das als nutzlose Geldausgabe –, und wieder Platz genommen hatten, verfingen sie sich im Netz der Politisiererei. Wie sie auf Willy Brandt gekommen waren, war nicht mehr auszumachen. Aber dass ausgerechnet er, der Vaterlandverräter, Regierender Bürgermeister von Berlin werden konnte, das war doch wohl ein starkes Stück. Christian und Stefan mochten ihn, er war noch so jung und sah nicht aus wie die alten Politikersäcke und seine Stimme war sehr prägend. Ihre zaghaften Einwände wurden von Fritz mit einer Geste vom Tisch gewischt.
    „Herbert Ernst Karl Frahm, so hieß der doch, als er noch in Lübeck wohnte“, sagte Fritz, dessen Aussprache immer nuscheliger wurde, weshalb er versuchte, jede Silbe besonders zu betonen. „Wehner und Brandt, Sozis und Kommis, die verkaufen uns doch nur, bah!“
    „War der nicht auch auf dem Katharineum?“, fragte Herbert, der heute keine Lust verspürte, sich den Zorn seiner Ehefrau zuzuziehen. Hildegard hatte ihn noch im Hausflur leise gewarnt, sich nicht mit Fritz auf politische Diskussionen einzulassen, das würde den Abend verderben.
    „Nein, ich glaube, Johanneum, wenn ich mich richtig erinnere“, sagte Hildegard. „Aber ob der Abi gemacht hat, weiß ich nicht mehr. Fragt ihn ja keiner nach, bei der Karriere.“
    „Seine Frau Rut hat er doch in Norwegen kennengelernt. Die mag ich“, sagte Ingeborg, die gern so ausgesehen hätte. Sie fand das Ehepaar Brandt ausgesprochen attraktiv, hätte das Fritz gegenüber aber nie zugegeben. In den Wochenmagazinen verfolgte sie die gesellschaftlichen Auftritte sehr aufmerksam.
    Vom Vaterlandverräter war es nicht weit bis zur nächsten gemeinsamen Fahrt nach Rendsburg, ohne den Zweck der Reise noch einmal zu nennen. Christian verstummte nun endgültig, hatte er doch innerlich beschlossen, auf keinen Fall mitzufahren, komme, was da wolle. Günter, der eine Männerfahrt vermutete, wurde nicht gefragt und war darüber ein bisschen pikiert. Als er anhub, um etwas zum Thema beizusteuern, bremste ihn Renate durch einen kräftigen Druck ihrer Hand.
    Fritz Lorenz, der mit zunehmendem Rausch in eine Zärtlichkeitsduselei verfiel, schlug Christian auf die Schulter oder wuschelte seinen Kopf, wenn er zur Toilette ging. Christian kannte diese „Anfälle“, wie er sie bei sich nannte. Er wusste, dass seinem Vater andere Möglichkeiten, seine Zuneigung auszudrücken, nicht zur Verfügung standen. Im Suff sprach sein Vater das an, was ihm im nüchternen Zustand unmöglich war. Ihm entging nicht, dass er öfter versucht hatte, Ingeborg mit den Augen zu fixieren und sie in ein Einverständnis zu zwingen, worauf sie sich jedoch nicht einließ und jedes Mal den Blick schnell abwandte, den er mit einem kleinen resignierten Schulterzucken zur Kenntnis nahm, um es kurze Zeit später wieder zu versuchen.
    Sie sangen Schwarzbraun ist die Haselnuss, In einem Polenstädtchen, O, du schöner Westerwald und Es war einmal ein treuer Husar. Bis auf Günter waren sie textsicher. Beim Horst-Wessel-Lied, das Fritz anstimmen wollte, sagte Ingeborg schneidend: „Nein, lass das.“ Danach ging die Stimmung etwas in den Keller. Jedenfalls gesungen wurde nicht mehr und die Familie Kremer machte sich heimlich Zeichen, langsam aufbrechen zu wollen. Abende kippten oft, wenn ein bestimmter Pegel erreicht war. Und dieser Abend war doch bisher wirklich sehr nett verlaufen.
    Den letzten Streit bog Stefan ab, als Bill Haley im Rundfunk gespielt wurde und Christian, jetzt sehr dun, „lauter, lauter!“ rief und sein Vater „Scheiß-Negermusik“ lallte. Er zog seinen Freund an sich und flüsterte ihm ins Ohr: „Lass mal, der Alte ist besoffen.“
    Den ganzen Abend über hatten Renate und Hildegard nicht viel getrunken. Renate wachte argwöhnisch über Günter, konnte dennoch nicht verhindern, dass auch er einen über den Durst gehoben hatte. Sie war beleidigt. Hildegard beobachtete mit Wohlwollen den Kreis, auch wenn es ihr zum Schluss doch zu viel wurde, und fühlte sie sich aufgehoben. Die beiden Frauen unterhielten sich leise

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