Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
Vom Netzwerk:
die Frauen folgten später, nachdem die Bowle schon lange vor dem Jahreswechsel bis auf den Grund geleert war. Eine letzte Flasche Sekt für die Begrüßung des neuen Jahres war kaltgestellt.
    Sie saßen um den Couchtisch herum, Herbert Kremer im Sessel, das Holzbein von sich gestreckt, der Stock gegen den Couchtisch gelehnt. Hildegard, Ingeborg und Renate auf der Couch, Fritz auf dem anderen Sessel und die Jungen auf Stühlen, Stefan neben seinem Vater und Günter in der Verlängerung der Couch eng neben Renate. Christian saß zwischen Günter und Stefan. Alle redeten durcheinander, was sie zuerst loswerden wollten. Der Tisch war hübsch mit Papierschlangen und Konfetti geschmückt. Die Anzugjacketts hingen schon im Flur; die Krawatten waren aber noch nicht gelockert. Papierschlangen waren um die Hälse wie Blumenkränze bei der Begrüßung auf Hawaii drapiert, schräg auf den Stirnen thronten kleine Hütchen, Zylinder, Melonen und Feze, mit einem schwarzen Gummiband unter dem Kinn befestigt, das hin und wieder mit dem Daumen gelockert und in eine andere Position geschoben wurde. Das Gummi hinterließ rote Streifen. Die Jungen durften ein Glas Bowle trinken, wurden aber ermahnt, nicht zu viele Früchte zu essen. Als sie sich nachfüllten, schritt niemand ein.
    An diesem Abend blieb das Fernsehgerät aus. Im Radio wurde ein bunter Abend aus der Rheinhalle in Düsseldorf übertragen mit dem Kurt-Edelhagen-Orchester und den Solisten Margot Eskens, Billi Johns, Peter Alexander, Ralf Bendix, Hans-Joachim Kulenkampff, dem Lukas-Trio, Günter Zacharias, und als Caterina Valente Ganz Paris träumt von der Liebe sang, fielen sie alle mit ein und selbst Christian sang den Refrain mit, nachdem ihn Stefan angestoßen hatte.
    Stefan war ganz in der Runde aufgegangen. Hemdsärmelig, ein von der Hitze und Aufregung gerötetes Gesicht, lautes Männerlachen. Er fühlte sich sichtbar wohl und Christian beneidete ihn um seine Sorglosigkeit. Wenn du wüsstest, dachte er. Zu ihm hatte er nur brüderliche Gefühle, die Vorstellung, ihn zu küssen oder zu streicheln, war vollkommen abstrus, geradezu abwegig. Er musterte ihn verstohlen. Es war eine Jungenfreundschaft ohne jeden Hintergedanken. Vertraut und aneinander gewöhnt wie lange Zeit getragene Garderobe. Würde Stefan zu ihm halten, wie neulich mit dem Tagebuch, wenn die Geschichte mit Ricky herauskäme? Ihm wurde fast schlecht. Er mochte gar nicht daran denken.
    Herbert Kremer erzählte einen Witz auf Ostpreußisch, von dem Günter nicht alles verstand, aber in das freundliche Gelächter bei der Pointe einfiel. Er gehörte jetzt dazu. Christian bedachte ihn mit einem angeekelten Blick.
    „Die Damen sprechen darüber, was wohl der unverzeihlichste Fehler eines Ehemanns sei. Eine sagt: das Trinken. Die andere: seine Fettleibigkeit. Marjellchen: Mir scheint als der größte Fehler, dass Lorbass schläft.“
    Christian kannte den Witz schon, und, wie er wusste, die gesamte Runde – bis auf Günter – ebenso. Aber er lachte so gut es ging mit und schubste sogar Stefan an. Das waren die kleinen Rituale, aus denen sich in beiden Familien die Freundschaft speiste. Vertrautheit und Nähe, die Sicherheit und Nicht-Verstellen ermöglichten. Ein Verstoß dagegen hätte die gemeinsamen Grundlagen empfindlich gestört. Denn worauf wäre noch Verlass gewesen, wenn man noch nicht einmal unter sich hätte reden können, wie einem der Schnabel gewachsen war? Alle hielten sich daran, weil sie sich über sämtliche Zwiste hinaus irgendwie doch miteinander verwoben fühlten. Hätte es jemand Schicksalsgemeinschaft genannt, niemand hätte widersprochen.
    Zu Helmut Zacharias wurde getanzt. Ingeborg zog Christian aus dem Stuhl und sie tanzten den langsamen Walzer so im Einklang, dass das Eis zwischen ihnen wieder tauen konnte. Ingeborg dachte, dass vielleicht doch noch alles gut würde. Das Tagebuch ließ sie unerwähnt, obwohl sie einen Moment versucht war, die Intimität mit ihrem Sohn auszunutzen.
    Als die Uhr zwölf schlug, waren die Erwachsenen bis auf Hildegard und Renate angesoffen; die Jungen hatten einen gewaltigen Schwips. Sie prosteten sich lauthals zu und Fritz zerzauste Christians Haare. Ingeborg drückte ihn stumm an sich. Renate war mit Günter beschäftigt. Fritz’ und Ingeborgs Küsschen fiel flüchtig aus. Hildegard half Herbert aus dem Sessel, was er sich nur widerwillig gefallen lassen wollte. Er stand, auf seinen Stock gestützt, der sehr schräg abstand, und alle stellten sich

Weitere Kostenlose Bücher