Anderer Welten Kind (German Edition)
dazu in der Lage war. Ob er nicht alles vermasseln würde mit seiner Ungeschicklichkeit. Sie brauchte noch Zeit. Von Unberührtheit bis zur Ehe hielt sie nichts, wurde auch niemals von ihrer Mutter damit konfrontiert. Sie war in Christian verliebt, sie mochte, wie er roch, sein Lachen und seine Hände, die nie ruhig waren, und sogar seine linkische Art wurden ihr mehr und mehr vertraut. Sie nistete sich ein bisschen bei ihm ein, fühlte sich wohl, dass sie ihm so nahe rückte. Aber ihre Besitznahme vollzog sich nur in kleinen Schritten, gepaart mit Irritationen, und ihr Vertrauen war nicht grenzenlos.
Nachdem sie das Nötigste eingekauft hatten, standen sie unschlüssig unter dem Vordach der Eisenwarenfirma Grube an der Haltestelle am Kohlmarkt. Es regnete in dünnen Fäden und an manchen Stellen fror das Wasser zu einer dünnen Eisdecke, sodass das Gehen mühsam wurde. Das unwirtliche Wetter hatte ihnen den Spaß am Bummeln gründlich verdorben.
Die Neuigkeiten der letzten Woche waren schnell erzählt. Helga griff noch einmal Silvester auf. Sie hatte sich zu Tode gelangweilt, die Operette war kindisch und albern gewesen und das Buffet mit den Erwachsenen … sie schickte einen Blick gen Himmel. Christian schämte sich, weil er außer dem üblichen typischen Ablauf eigentlich nichts zu berichten wusste, und er hielt sich deswegen bedeckt und tat die Feier als „wie immer“ ab. Insgeheim war er erleichtert gewesen, dass Helga nicht mitgefeiert hatte. Er wäre vor Peinlichkeit gestorben. Sie hielten sich an den Händen und überlegten, wie sie den Vormittag weiter verbringen sollten. Helga wollte Christian nicht zu sich nach Hause nehmen, obwohl er genau diesen Vorschlag zweimal wiederholte. Das Gespräch wurde zäh, beide schlugen sich mit ihren Gedanken herum, bis es schließlich gänzlich abbrach und sie die langweiligen, nichtssagenden Eisenwaren in dem Schaufenster betrachteten.
Helga gab sich einen Ruck. „Komm, wir gehen ins Venezia.“ Sie umfasste spielerisch Christians Hüfte und zog ihn in den Regen. Er sträubte sich, machte sich los und schlug stattdessen das Niederegger vor. Helga, die noch genug von der Rathauskeller-Atmosphäre hatte, ließ sich darauf nicht ein und sagte: „Na gut, wenn du nicht willst, gehe ich eben alleine.“
Sie machte sich los und ging ein paar Schritte voraus, als Christian sie einholte und stumm neben ihr herging. Hoffentlich ist er nicht da, dachte er. Sie schlitterten über eine kleine Eisfläche auf dem Rathausmarkt und wiederholten dann lachend die Schlitterpartie, bis das Eis brach.
Das Venezia war lärmend gefüllt. Sie waren nicht die Einzigen, die den letzten Ferientag für einen Stadtbummel genutzt hatten. Sie erkannten zwei Klassenkameraden, die ihnen egal waren, wechselten ein paar belanglose Worte, bevor sie sich an einem der Fenstertische niederließen. Helgas Wollmantel begann zu dampfen und rote Wangen glänzten auf ihren Gesichtern. Feine Wassertropfen perlten in ihren Haaren. Christian wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er war nervös, blieb unkonzentriert, blickte immer wieder zur Eingangstür und aus dem Fenster, hörte kaum hin, als Helga, die die Lübecker Nachrichten durchblätterte, versuchte, ihn in ein Gespräch über etwas zu verwickeln, was sie gerade in der Zeitung gelesen hatte.
„Wie findest du denn das: Lübecker Jugendschutzwoche?“, fragte sie, „da schreiben sie über die Halbstarken und das zunehmende Rowdytum der Jugend und dass es keinen Respekt mehr gibt.“
Christian musste sich erst in die Frage hineinfinden, deshalb zögerte er. Dann sagte er: „Ich finde Halbstarke nicht schlimm.“ Er dachte daran, wie stark und wohl er sich gefühlt hatte, als er selbst einer war, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Helga musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er fand Halbstarke nicht schlimm? Das hätte sie nicht erwartet. Ihr machten diese Typen Angst, wenn sie in Gruppen auf ihren Motorrädern mit aufgebohrten, laut knallenden Auspufftöpfen durch die Straßen donnerten. Sie stellte sich das nur so vor, denn sie war selbst noch nie in eine so hautnahe Situation geraten.
„Nicht schlimm? Hast du denn nichts von den Schlägereien und Anpöbeleien gehört oder gelesen? Neulich stand sogar in der Zeitung, dass sie die Stühle bei einem Rock-’n’-Roll-Konzert zerdeppert haben.“
„Da ist doch auch viel Stimmungsmache dabei“, sagte Christian, der sich plötzlich angegriffen fühlte, „ich kenne keine und mir
Weitere Kostenlose Bücher