Anderer Welten Kind (German Edition)
nervöses Abgelenktsein die Eiscafébesuche als einigermaßen normal zu nehmen. Trotzdem gelang es ihm nicht, seine Erlebnisse zu verdrängen. Mit dem zeitlichen Abstand verblasste zwar die emotionale Intensität seiner Erinnerungen, was den direkten Akt betraf, dessen erotische Anziehung verflachte, die Bilder der Begegnung blieben indes gespeichert. Manchmal wähnte er schon, es gar nicht selbst erlebt zu haben, einem Film ähnlich, den sich die Fantasie als eigenes Erleben einverleibt hatte. Es war immer noch zu groß für ihn und manchmal, und das war neu, war er sogar ein wenig stolz, Teil dieser sonderbaren Geschichte gewesen zu sein. Er hatte das Gefühl, etwas zu wissen und erfahren zu haben, was seine Schulkameraden und alle anderen, die seinen Weg kreuzten, nie für möglich gehalten hätten, als wenn er einen Vorsprung hätte, erwachsener oder abgeklärter zu sein, sehr diffus und immer noch unterbrochen von den unangekündigten Panikattacken, wenn er sich hineinsteigerte in die Vorstellung, was passieren würde, käme es heraus.
Hatte er noch das Ziel oder war sein Versuch, Malskat kennenzulernen, schon erschöpft? Er wusste es nicht. Malskat war in sehr weite Ferne gerückt und sein eigenes Verhältnis zu Ricky lag vollkommen im Ungewissen. Er hatte schlicht keine Idee dessen, wie es sein würde, wenn er ihm begegnete. Am sehnlichsten wünschte er sich ein unkompliziertes, freundschaftliches Wiedersehen, irgendeinen Anknüpfungspunkt außerhalb der intimen Erfahrung. Aber da gab es nicht viel.
Als Ricky dann plötzlich auftauchte und es ganz anders war, als er sich ausgemalt hatte, wusste er wieder, wer er war und dass er gar nichts in der Hand hatte und sein vermeintlicher Vorsprung zusammengeschrumpft war bis zur Unkenntlichkeit und ihn als den zurückließ, den er so hasste: als einen unsicheren, sich selbst verleugnenden Menschen, der unfähig war, für sich einzustehen und sich zu behaupten.
Stefan hatte er seit der Silvesterfeier nur sporadisch oder in der Schule gesehen. Sie begegneten sich wieder als vertraute Freunde, die es gut aushalten konnten, wenn sie nicht jeden Tag zusammenhockten. Beide zogen ihre eigenen Kreise. In den Pausen standen sie manchmal zusammen und tauschten sich aus. Als Stefan ihn fragte, wie sich die Geschichte mit dem Tagebuch entwickelt hätte, konnte Christian abwinken, es sei wohl kein Thema mehr.
Überhaupt habe sich seine häusliche Situation merklich entspannt. Seine Schwester erkundige sich sogar schon mal nach Helga, seine Mutter habe ihre Distanz nach dem Silvesterabend nicht weiter beibehalten und selbst sein Vater schien ihn wieder als Menschen aus Fleisch und Blut wahrzunehmen, den er nicht länger ignorieren müsse. Über die üblichen Gespräche über Schule und Training kämen sie aber nicht hinaus. Rendsburg ließen sie aus, für Fritz Lorenz gab es keinen Grund mehr, das Thema anzuschneiden, er hatte sich durchgesetzt und Christian tat einen Teufel, ihn daran zu erinnern.
Christian versuchte, keinen neuen Zündstoff für möglichen Familienstreit zu liefern. Er spielte sogar ein-, zweimal Canasta mit ihnen und freute sich, wenn er mit seiner Mutter ein Paar bilden konnte und sie ihre Kartenbilder ergänzten. Ingeborg, die in einem DIN-A5-Block mit karierten Seiten die Punktzahlen penibel addierte, um das Siegerpaar zu ermitteln, strahlte, wenn sie und Christian gewannen, enthielt sich aber jeglichen Kommentars gegenüber den Verlierern und setzte eine neutrale Miene auf. Renate und Fritz spielten verbissener und besonders Renate konnte sich nicht beherrschen und fuhr ihren Vater an oder zog eine beleidigte Schnute, wenn er einen Fehler beging. Wenn sie gewannen, sagte sie: „Mal verliert man, mal gewinnen die anderen“ und grinste schadenfroh in die Runde, wobei sie besonders Christian in den Blick nahm. Grund genug für Ingeborg, froh zu sein, wenn die beiden anderen das Spiel für sich entschieden.
Oft arrangierte sie es beim Einnehmen der Sitzplätze so, dass sie Christian zum Partner hatte, mit ihrem Mann mochte sie nicht gern zusammenspielen, seine Freude über einen gelungenen Spielzug, der zum Canasta führte, hatte etwas Triumphales, das ein meckerndes Lachen begleitete.
Günter weigerte sich, das Kartenspiel zu erlernen. Skat ja, blieb gar nicht aus auf dem Bau, aber das hier schien viel zu kompliziert und Renates Zorn mochte er sich nicht aussetzen. So saß er dabei, litt und freute sich mit ihr und trank sein Bier aus der Flasche. Aus
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