Anderer Welten Kind (German Edition)
einem Glas trinken war nicht, darüber ließ er auch nicht mit sich diskutieren.
Christian konnte sich nicht daran sattsehen, wenn seine Mutter die Karten sortierte und sie dann fächerartig gestreut hielt, sodass die vier leuchtend rot lackierten Fingernägel akkurat nebeneinander den unteren Rand der Karten wie Stoppschilder begrenzten, und die neuen Karten zwischen Daumen und zwei Fingern vom Stapel nahm, um sie dann von oben an ihren Platz zu stecken, eine Geste, die sie so selbstverständlich beherrschte, so routiniert und gekonnt, dass Christian sie nachzumachen versuchte, ohne aber auch nur im Entferntesten ihre Eleganz zu erreichen. Er stopfte die Karten eher, als dass er sie fächerte, und oft genug fielen einige heraus und er musste sich bücken, um sie aufzusammeln, wobei ihm die in der Hand verbliebenen verrutschten, was Renate spöttisch mit einem Feixen oder die Augen verdrehend kommentierte.
Er stand so unvermittelt vor ihnen, dass Christian regelrecht erschrak, nur ein schwaches „Hallo“ herauspressen konnte und nicht wusste, wohin mit seinen Augen, mit seinem Körper, mit sich selbst. Er wurde feuerrot und es gelang ihm auch nicht, Helga anzuschauen, die perplex zu dem Mann emporblickte, den sie vor einiger Zeit als Ricky kennengelernt hatte, der aber jetzt in seiner Rockermontur und seiner Schmalztolle vollkommen anders aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte. An seinen Mund mit dem dünnen Schnurrbart erinnerte sie sich und an seine gekrümmte Haltung, der Rest war ihr verschwommen.
Ricky schien von dem Schrecken, den er ausgelöst hatte, nichts zu bemerken, oder er ging einfach darüber hinweg, als er fragte, ob er sich zu ihnen setzen könne und auf den dritten Stuhl zeigte. Christian nickte stumm und wünschte sich wieder einmal weit weg. Helga, die Christians Irritation bemerkt hatte, wollte etwas einwenden wie „Wir wollten gerade gehen“, als sie sah, dass Christian schon genickt hatte, sagte dann aber: „Natürlich … bitte.“
Ricky, der einen Hauch der Kälte mit hereinbrachte, entledigte sich seiner Lederjacke und hängte sie über die Stuhllehne, bevor er sich setzte. Er rieb sich die Hände, faltete sie anschließend und blies hinein. Diesmal war keine Farbe daran.
„Was für ein Sauwetter“, sagte er und hielt Christian den Ärmel seiner Lederjacke hin. „Fühl mal.“ Christian griff gehorsam hin, bevor er es sich anders überlegen konnte, und nickte zur Bestätigung. Es war wie ein geheimes Zeichen des Wiedererkennens, das hatte er sofort verstanden. Ricky übersah Helga, überlegte es sich dann anders und hielt ihr den anderen Ärmel hin und sagte mit einem Lächeln, das eher einem Strich glich: „Du auch?“ Helga ignorierte die Geste, die Hand zur Abwehr gehoben. Sie schwieg und man merkte ihr an, dass sie verstimmt war über die Unterbrechung. Sie wollten tatsächlich bald aufbrechen, um gemeinsam bei ihr für eine anstehende Geschichtsarbeit zu lernen, irgendetwas über die soziale Struktur des beginnenden Mittelalters und die gesellschaftlichen Veränderungen, die die Einführung der Dreifelderwirtschaft und die Erfindung des Kummets mit sich brachten.
„Wir haben uns ja lange nicht gesehen“, sagte Ricky, sich wieder an Christian wendend. „Hast du die Feiertage gut überstanden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Im Venezia kreuzen sich ja glücklicherweise immer mal wieder die Wege.“
Christian nickte wieder und, als ob er sich daran erinnern würde, dass er es nun schon zum dritten Mal tat, sagte er: „Ja, stimmt“ und es war nicht auszumachen, worauf sich seine Antwort bezog. Er fühlte sich vollkommen ausgeliefert und hatte nichts, was er sagen oder tun konnte. Schon von Anfang an war da ein falscher Zungenschlag gewesen, etwas Verkrampftes, Unausgesprochenes. Er spürte einen Vorwurf hinter Rickys letzter Bemerkung und begann sich schuldig zu fühlen, als wenn er Ricky seit jenem Nachmittag aus dem Weg gegangen wäre, was ja auch stimmte und gleichzeitig nicht stimmte. In die entstehende Pause sagte er: „Und bei dir?“
Wie auf ein Stichwort begann Ricky zu erzählen, dass er kaum aus dem Haus gegangen sei, ab und zu im Venezia vorbeigekommen, dabei schaute er Christian an, und dass er einige Tage über Neujahr bei seinem Onkel in Mölln verbracht habe und viel gemalt habe. Diesmal bezog er Helga mit ein, wandte sich direkt an sie, als er von der Malerei sprach, und nötigte ihr so ein verständiges Nicken ab.
„Ich erinnere
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