Anderer Welten Kind (German Edition)
käme. Zu mehr wäre er auch gar nicht in der Lage gewesen; das Weinen saß kurz hinter den Augen und im Hals. Zu Stefan hatte er nur gesagt, dass es aus sei mit Helga, er aber nicht darüber reden könne. Stefan hatte genickt, nicht weiter insistiert. Stummes Mitfühlen mit dem Freund. Das Venezia mied er, umging es weiträumig, wenn es unumgänglich war, sich überhaupt in der Königstraße aufzuhalten. Helga war einige Tage krank gewesen, und als sie wieder auftauchte, übersah sie ihn und verhielt sich abweisend, wenn seine Nähe unvermeidlich war.
Nachdem die Dumpfheit im Kopf sich gelegt hatte, konnte er die Geschehnisse Revue passieren lassen, suchte er nach Erklärungen, argumentierte ständig im Selbstgespräch herum, sondierte theoretische Möglichkeiten, alles ungeschehen zu machen. Übrig blieb ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit und der Selbstverachtung. Er gab sich und nur sich die Schuld, dass er zu feige gewesen war, Ricky zurückzuweisen, zu feige, Helga ins Vertrauen zu ziehen, zu arrogant, Stefan um Rat zu bitten. Er begann, an den Fingernägeln zu kauen, es war eher ein Reißen mit den Zähnen, bis die Nagelbetten rot und blutig waren. Bei Tisch versteckte er sie, registrierte die besorgten Blicke seiner Mutter. Als Renate ihm ganz geschwisterlich und diesmal ohne Bosheit zuflüsterte, er stinke, gab er sich einen Ruck und stieg in die Badewanne. Er nahm sich vor, sich nicht weiter zu vernachlässigen, wenigstens äußerlich sollte man ihm nichts ansehen. Dem Impuls, an den Nägeln zu kauen, begann er zu widerstehen.
So ging das zwei lange Wochen und allmählich begann er, sich abzufinden. Nicht, dass er nicht weiterhin schrecklich unter dem Verlust von Helga gelitten hätte und mit zunehmender Wut an die Machtdemonstration von Ricky dachte, er begann aber, sein Leid und seine Wut zu behausen, nahm sie als gegeben hin, als zwei Gäste, die sich bei ihm eingenistet hatten. Es waren zwei stille Wochen gewesen, in denen er sich mit dem neuen Zustand vertraut machte. Und er dachte, er könnte niemals mehr lachen.
Inzwischen hatten seine Klassenkameraden die Neuigkeit begierig aufgesogen, aber sie ließen sie in Ruhe, als wenn dieses Paar, in dessen Mittelpunkt besonders Helga stand, sakrosankt gewesen wäre, vorbildlich und nachahmenswert und natürlich auch beneidenswert. Und darüber war Häme nicht angebracht, keine öffentliche, demaskierende Häme oder Schadenfreude. Doch hinter der vorgehaltenen Hand kauerte die Bosheit und der angesammelte Neid hatte viele Kanäle in viele Ohren. Stefan belauerte Helga, war ausnehmend freundlich und hilfsbereit, vielleicht witterte er eine Chance, wenn er sich ihr anheischig machte. Helga schien es nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Henze wunderte sich. Christian legte sich dermaßen ins Zeug, dass er ihn bremsen musste. Im Kraftraum stand der Schweißgeruch wie eine Wand und die Fenster waren von der Feuchtigkeit beschlagen. Christian riss und stemmte die Gewichte mit einer Wut hoch, die Henze früher nicht bei ihm kannte. Er hatte sich sonst ebenso wie die anderen Jungen geschunden, wiederholte die Übungen aber nie öfter als von ihm verlangt. Jetzt legte er exakt sein Körpergewicht auf und sprang beinahe beim Reißen unter die gestreckten Arme und war schon beim fünfzehnten Versuch angekommen.
„Langsam, Junge“, sagte Henze, „mach keine falschen Bewegungen. Streck das Kreuz durch.“
Aber er sah es mit Wohlwollen; dieser Ehrgeiz gefiel ihm. Christian keuchte und diesmal schaffte er es nicht mehr, das Gewicht abzusetzen, und es knallte mit einem dumpfen Schlag auf die Matte. Vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, keuchte er und die Schweißtropfen fielen von der Nasenspitze auf die Bodenplanken.
„Es reicht“, sagte Henze, „es reicht. Noch zehn Minuten Seilspringen und dann ab unter die Dusche.“
Beim Verlassen des Raumes dachte Henze, dass er endlich wieder eine reelle Chance hatte, mit diesem Vierer ganz weit zu kommen, vielleicht tatsächlich nach Berlin zu den Endläufen in den Jugendmeisterschaften. Und er, Wilfried Henze, war ihr Trainer, wahrscheinlich mit einem Zeitungsartikel in den Lübecker Nachrichten und der Ehrung beim Schulfest auf der Israel-Wiese. Und es würde leichter werden, Geld für ein neues Boot beim Direktor loszuschlagen. Zufrieden nickend machte er sich auf den Heimweg.
Christians Körper schmerzte, es war ein guter Schmerz, er fühlte sich lebendig und stark, solange das Training anhielt. Doch schon
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