Anderer Welten Kind (German Edition)
nicht nur stoßweise die Luft, sondern auch der Mut und er hatte keine Kraft mehr, sich vorzustellen, wie er es ihr beichten sollte, ohne zu riskieren, alles zu verspielen.
Das Haus lag im Dunkeln. Vor ihrem Fenster im ersten Stock waren die Gardinen zugezogen. An der rechten Seite der Haustür über dem Klingelknopf war die Eingangsleuchte eingeschaltet, ein dünnes Licht, das nur den Türrahmen schwach ausleuchtete. Vielleicht befanden sich die Kortens im Wohnzimmer, das zu dem Garten mit der Terrasse hinter dem Haus führte. Er versuchte, einen Blick über die dichte Koniferenhecke zu werfen, die das Grundstück begrenzte, aber auch die Rückseite schien im Dunkel zu liegen. Es war sehr still. Christian stand und starrte zu Helgas Fenster hinauf. Zu klingeln traute er sich nicht. Als er sich vorstellte, sie könnte hinter dem dunklen Fenster stehen, wich er zurück und stellte sich hinter die Platane am Straßenrand. Von hier konnte er sowohl den Bürgersteig als auch das Haus beobachten und in dem schummrigen Licht der Straßenlaterne verschmolz er mit der Umgebung. Er rührte sich nicht, erinnerte sich an die langen Wartezeiten im Moor und dachte, dass das Warten die eigentliche Hauptbeschäftigung seines Lebens sei.
Nach einer Weile, die ihm ewig vorgekommen war, sah er sie kommen. Erst schemenhaft, dann immer deutlicher. Sie ging langsam auf ihn zu, den Kopf gesenkt, scheinbar in tiefe Gedanken versunken. Sie näherte sich der Haustür, ohne aufzublicken, und da hörte er ihr Schluchzen und das leise Weinen, das mehr einem Wimmern glich, sah sie den Schlüssel aus der Handtasche klauben, hörte ihn zweimal im Schloss umdrehen, hörte das Knarzen der Scharniere, das Abtreten der Schuhe auf der Matte und das Plopp, als sie leise die Tür schloss. Sie war verschwunden und Christian war unfähig gewesen, sich zu bewegen.
In ihrem Zimmer ging das Licht an und er stellte sich vor, wie sie dort stand, unschlüssig verweilte, um sich vielleicht schluchzend auf das Bett zu werfen, das er so gut kannte. Er starrte und starrte, aber hinter der Gardine bewegte sich nichts. In einem Anflug von Entschlossenheit wollte er zur Haustür, hielt inne und nach einem kurzen Zögern drehte er sich auf dem Absatz rum und schlich mit gesenktem Kopf nach Hause. Die erleuchteten Fenster auf seinem Heimweg durch die Moltkestraße würdigte er keines Blickes.
„Ich glaube, wir passen nicht zusammen.“
Sechs dürre Worte, und Christian war wieder allein. Gleich am nächsten Morgen zu Schulbeginn offen ins Gesicht gesagt, weggedreht und zu ihrem Platz gegangen. Sechs Wörter und der Boden unter Christians Füßen war verschwunden. Zu erklären gab es nichts, Begründungen waren nicht nötig. Beide wussten Bescheid. Er nahm es an wie ein Urteil. Demütig. Vielleicht hätte er kämpfen sollen, sich verteidigen, aber es gab nichts zu verteidigen. Wenn Helga traurig und verletzt war, so zeigte sie es nicht. Ganz ruhig war sie geblieben. Unerschütterlich? Er hatte sie doch weinen sehen! Sollte er da nicht anknüpfen? Sie hätte es nicht zugegeben. Seine Beichte? Unmöglich, sie war nicht in Worte zu fassen, hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Noch schlimmer? Gab es Schlimmeres, als Helga zu verlieren?
Ja, eindeutig. Helga zu verlieren mit dem Wissen, dass sie über seine Eskapade Bescheid wüsste. Dann käme noch die Verachtung dazu. Also nahm er es hin. Den Vormittag über gingen sie sich aus dem Weg. Christian und Stefan verbrachten die Pausen zusammen, er suchte Stefans Nähe, erwähnte die Trennung mit keinem Wort. Am Unterricht beteiligte er sich nicht, fixierte die Linien und Schründe auf dem Tisch, war geistesabwesend und kämpfte einen langen Schultag mit den Tränen. Angesichts dieses Endes hatte er vergessen, wie ambivalent seine Haltung gegenüber Helga gewesen war, wie uneindeutig und zögerlich.
Die nächsten Tage verstolperte er. Ging allen aus dem Weg, ließ den Trainingstermin verstreichen und verkroch sich in seinem Zimmer. Dort saß er stundenlang, starrte aus dem beschlagenen Fenster auf das Rasengrün mit den beiden Klopfstangen, das jetzt braun durchsetzt war und als Bolzplatz diente, fuhr mit dem Finger die Wassertropfen nach und zeichnete Herzen mit Pfeilen, die er sofort wieder auswischte, räumte seinen Schreibtisch auf, wo es nichts aufzuräumen gab, nahm einsilbig an den familiären Essen teil.
Sie ließen ihn in Ruhe, nachdem er seiner Mutter knapp mitgeteilt hatte, dass Helga nun doch nicht mehr
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