Anderer Welten Kind (German Edition)
Griff verstärkte sich jedes Mal, wenn er den Stock schwungvoll mit einer leichten Kreisbewegung nach vorn beförderte. Schwarzgraue Schneeplacken auf den Straßen und Gehwegen und dunkelfeuchte Flecken an den Hauswänden machten alles totgrau und hässlich.
Denselben Abend hatten auch Christian und Stefan zusammen verbracht. Sie saßen in Stefans Zimmer, hörten Schallplatten von Chuck Berry (Johnny B. Goode), Jerry Lee Lewis (Whole Lotta Shakin’ Going on) und immer wieder, bestimmt zehnmal hintereinander, die neueste Erwerbung: Eddie Cochrans Am I Blue. Fast andächtig lauschten sie dem leicht scheppernden Klang aus dem Lautsprecher und starrten auf die kreisende Scheibe, ihre Art bescheidener Teilhabe am Rock-’n’-Roll-Himmel.
Stefan liebte Autos und er verschlang alle Artikel, Werbematerialien und Fachliteratur, die er in die Hände bekam, um seinen Hunger zu stillen. Besonders liebte er die Prospekte der Autofirmen, in denen in farbigen Querschnitten auf ausklappbaren Seiten die Innereien der Modelle freigelegt wurden.
Die Solitude-Rennstrecke bei Stuttgart hatte er schon mit einem Onkel besucht, sein bisher größtes Erlebnis, das ihn in den Augen seiner Mitschüler zum absoluten Fachmann hochkatapultierte, und Sterling Moss, ewiger Zweiter hinter Fangio, war sein Gott, trotz seiner englischen Nationalität und dem Verlierernimbus, der ihm anhaftete. Merkwürdigerweise störte es ihn nicht, dass er nie im Silberpfeil gefahren war. Christian hatte sich geduldig jede Kurve erklären lassen, welche Kehre in welchem Gang zu nehmen war und wie oft und wie lange Spitzengeschwindigkeiten erreicht werden konnten. Die 24 Stunden von Le Mans war sein Lieblingsrennen, weil die Fahrer zu ihren Boliden laufen mussten und die schnellsten schon weg waren, wenn sie das Auto ebenso schnell starten konnten, ehe die letzen ihren Arbeitsplatz überhaupt erreicht hatten. Manchmal war er zwei- oder dreimal nur wegen der Wochenschau in denselben Film gelaufen, um den Bericht über ein Rennen sich wieder und wieder anzusehen.
„Mein Vater will nicht, dass ich das lese“, sagte er und zog die Zeitschrift Der Spiegel unter seiner Matratze hervor. „Aber das musst du dir ansehen, das ist unglaublich“, und er schob Christian die geöffnete Zeitschrift hin und tippte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel mit der Überschrift Der Trick mit Fangio.
„Hier, hier“, sagte er, „Fidel Castro hat Fangio entführt; stell dir das mal vor. Mitten in Havanna!“
„Warte“, erwiderte Christian, „ich bin noch nicht so weit.“
Dass Fangio der amtierende Champion war, wusste er natürlich als Stefans Freund. Über Fidel Castro und seinen Aufstand gegen den Diktator Batista hatte er nur am Rande gehört, sein Interesse an der Weltpolitik war beschränkt. Aber Fidel Castros Bild in der Mitte des Artikels fand er schon stark. Frech sah der aus und vor allem der Typ im Hintergrund, bärtig, lange Haare, den Helm lässig nach hinten geschoben, das Gewehr im angewinkelten Arm auf Schulterhöhe wie eine Trophäe und eine Zigarre im lächelnden Mundwinkel, kein bisschen Angst, was kostet die Welt.
Stefan konnte sich nicht entscheiden, was er schlimmer fand. Dass Fangio mitten in einer Empfangshalle eines Luxushotels gekidnappt worden war und nicht am Rennen teilnehmen konnte oder dass sein Ersatzmann Garcia Cifuentes in einer Kurve ins Schleudern geraten und verunglückt war und fünf Menschen in den Tod gerissen hatte, nachdem die Rebellen offensichtlich Öl auf die Fahrbahn gegossen hatten, wie Sterling Moss nach dem Abbruch des Rennens behauptet hatte und damit auch Stefans Meinung festlegte. Jedenfalls war Fangio nach dem Rennen wieder vergnügt in der argentinischen Botschaft aufgetaucht und hatte die korrekte, höfliche Behandlung und komfortable Unterbringung durch die Rebellen den Reportern in die Notizblöcke diktiert.
Stefans Empörung war echt. Politik hatte im Sport nichts zu suchen und was hatten die Rennfahrer mit dem Aufstand zu schaffen? Hitzig versuchte er, Christian von seiner Meinung zu überzeugen, verstieg sich in Gewaltfantasien gegen Castro und seine Leute. Christian hielt dagegen, dass sie nichts über Kuba wüssten, und fragte Stefan eher rhetorisch als tatsächlich, warum denn ein Rennen in Havanna überhaupt ausgetragen werden müsste, wenn dort ein Aufstand herrschte.
Das brachte Stefan erst recht auf die Palme. „Weil Havanna nun mal eine Traditionsstrecke ist, das ist doch leicht zu begreifen. Die kann
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