Anderer Welten Kind (German Edition)
Gespräch zwischen ihr und ihren Nachbarn, dass nicht doch Köpfe plötzlich in seine Richtung geworfen wurden, in den Mienen staunende Ungläubigkeit oder gemeiner Spott.
Nach der Schule auf der großen Treppe holte sie ihn ein und anstatt an ihm vorbeizulaufen, verlangsamte sie ihr Tempo, bis sie im gleichen Rhythmus wie er die Stufen nahm. Sie hielt sich am Geländer fest und man hätte meinen können, ihr synchroner Gang suggeriere Einverständnis und Vertrautheit. Sie sagte mit leiser Stimme, der die innere Verspannung anzumerken war, den Kopf starr geradeaus gerichtet: „Ich hasse dich. Du … du … und was du da tust, ist ekelig.“
Und ehe Christian reagieren konnte, nahm sie zwei Stufen auf einmal, sprang fort.
Hatte er jemals ein so vernichtendes Urteil über sich vernommen? So vollständig und so absolut? Es umfasste alles: den Betrug, sein Lavieren, seine Unterwerfung unter Ricky, seine Unfähigkeit, ihr von Herzen gut zu sein, seine Schwäche. Gab es etwas, an dem er sich festhalten, sich klammern konnte? Da war nichts, da war nur er in seiner Jämmerlichkeit. Wie er sich verachtete und wie nackt er sich fühlte! Noch war die Zeit des Trotzes und des Ihr-könnt-mich-mal noch nicht gekommen. Die folgte später. Jetzt war es die Zeit des Selbstmitleids und der Scham. Und der Peinlichkeit, denn vor allem war es ihm unendlich peinlich, dass Helga über ihn Bescheid zu wissen schien. Sie war sich wahrscheinlich in ihrer Gekränktheit sicher, was mit ihm los war, viel sicherer, als er es jemals sein würde. Denn er wusste nicht, was die Ricky-Episode bedeutete. Hatte er nicht mit aller Macht versucht, mit ihr zu schlafen? Das musste sie doch mitbekommen haben! Vielleicht hatte sie das Krampfhafte und Überzogene in diesen Situationen schon gespürt? Dann würde sie sich jetzt bestätigt fühlen und nichts würde sie umzustimmen vermögen. Die Vorstellung, ihr zu begegnen, und sie würde ihn nicht für einen richtigen Mann halten, ließ ihn blind werden für alle weiteren Überlegungen, und hätte es ein Loch in der Erde gegeben, er hätte sich darin verkrochen. So verkroch er sich in sein Zimmer, verkroch sich in sich selbst und dachte daran, mit welchen Augen sie ihn sähe und dass er nichts dagegen tun könne. Sie hatte „eklig“ gesagt, nicht „krank“. Wenigstens daran hielt er sich fest.
Fritz Lorenz und Herbert Kremer hatten schon einiges getankt. Freundschaftsabend. Sie saßen in einer Kneipe am Marliring in der Nähe der Bushaltestelle, der Heimweg würde nicht so weit sein, leicht zu Fuß zu bewältigen. Besaufen wollten sie sich nicht, nicht systematisch und nicht mit Vorsatz. Das gab es auch. Aber einer ging immer noch und bald befanden sie sich in dieser seligen Stimmung, die sich einstellt, wenn das Gespräch gut ist, das heißt, Übereinkunft in den großen Zügen und wohlwollender Disput im Detail, mit einem Wort: Einvernehmen.
Herbert freute sich mit Fritz über seine beruflichen Aussichten und im Stillen dachte er, nicht schlecht, dass Fritz öfter weg wäre, nicht schlecht für ihn, nicht schlecht für seine Ehe und ganz und gar nicht schlecht für Christian, vor allem für den Jungen. Für sich konnte er sich das nicht vorstellen. Gar nicht einmal wegen seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit oder der umständlichen Handhabung seines Holzbeins. Ihn befiel jedes Mal eine Unruhe, wenn er von seiner Familie getrennt war, er machte sich sofort Sorgen und vermisste sie.
„Ich wollte mit dir schon lange mal darüber reden“, begann er, seinen Gedanken jetzt laut fortsetzend. „Du sollst deinen Jungen nicht so an die Kandare nehmen, es ist ein guter Junge, lass ihn ein wenig von der Leine.“
Fritz schnaubte. Warum musste sich Herbert immer in seine Erziehung einmischen! Es war doch bisher ein so netter Abend gewesen! Seine Arme verschränkten sich automatisch vor der Brust und er lehnte sich zurück.
Dann nickte er. Er würde nie mit Herbert in dieser Frage übereinkommen. Sollte er sich deswegen schon wieder zanken? Das lohnte sich doch gar nicht. Außerdem hatten sie sich an diesem Punkt schon oft gerieben, alle Argumente x-mal hoch und runter durchdekliniert. Jeder würde es auf seine Art machen. Herbert ließ sich ja auch nicht in seine Erziehung reinreden und da gab es, weiß Gott, genug anzumerken. Dieser ganze Hottentottenmusikmist, zum Beispiel, in seinem Kopf klang es wie hotntotn.
„Nein, ich meine es wirklich ernst“, sagte Herbert. „Neulich hat er beinahe
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