Anderer Welten Kind (German Edition)
verkapselte sich. Ihn ekelte bei der Vorstellung, sein Sohn könnte mit einem anderen Mann intim gewesen sein. Beide wussten, dass sie es nicht mehr lange hinausschieben konnten, das Gespräch mit Christian, aber bitte, lieber Gott, nur noch einen Tag, dann wäre Christian wieder in der Schule und dann könnte man bereden, wie es weiterginge.
In seiner ersten Reaktion hatte Fritz sich alle möglichen Strafen ausgedacht, dann aber schnell seine Ohnmacht eingestanden, dass das keine Frage der Züchtigung sei. Was sollte man da bestrafen? Also Stubenarrest und nach der Schule sofort nach Hause oder zum Sport, sonst nichts, gar nichts. In seiner Hilflosigkeit wollte er sich Herbert Kremer anvertrauen. Wozu waren sie schließlich Freunde? Aber er hätte vor Herbert zugeben müssen, dass seine Vorstellung von der Zukunft geplatzt wäre, dass sein Sohn, auf den er so stolz gewesen war, seinem Einfluss gänzlich entschwunden war und dass er als Vater vollkommen versagt habe. Ein Homo in seiner Familie. Warum musste ausgerechnet er das durchmachen? Hatte er nicht schon genug erlebt, durchlitten? Krieg, Flucht, dieses erbärmliche Leben? An seine Kameraden mochte er nicht denken. Er musste versuchen, die Sache so weit wie möglich unter den Teppich zu kehren.
Renate blieb gelassen. Eher neugierig musterte sie ihren Bruder, ließ ihn links liegen und sagte zu Günter kein Sterbenswörtchen. Sie wollte sich auf ihrem Weg in eine eigenständige Zukunft durch nichts aufhalten lassen, schon gar nicht durch eventuelle Hindernisse in Form von Familientragödien. Homosexualität war ihr ein Rätsel, ähnlich wie der Katholizismus, und sie versuchte erst gar nicht, etwas zu enträtseln, was sie für ihre Welt ausgeschlossen hatte. Dass Günter nur sie im Sinne haben würde, dafür würde sie schon Sorge tragen. Der würde nicht auf krumme Gedanken kommen. Günter wunderte sich, dass Renate ihn in dieser Woche so selten sehen wollte. Sie gab vor, für die Prüfungen lernen zu müssen. Sie trafen sich nach dem Haushaltskurs beim Müttergenesungswerk in der Stadt.
Grau in Grau. Christian verfolgte den Postboten mit seinen Augen, wie er die Placken auf dem Gehweg umschiffte, die schwere Posttasche erst zurechtrückte, indem er sie von unten umfasste und hin- und herruckte und gleichzeitig den Schultergürtel verschob und sie dann schon zum Vorsortieren öffnete, im Hauseingang verschwand, nachdem er geklingelt hatte, was Christian als ganz schwaches Geräusch aus dem Treppenhaus wahrnahm, und nach einigen Minuten wieder heraustrat, zum Himmel schaute, die Schultern hochzog, die Mütze in die Stirn schob und den Weg wieder zurückging. Er hatte wohl Einschreiben loswerden müssen, das erklärte die Dauer seines Verschwindens.
Christian setzte sich an seinen Schreibtisch, schmiegte den Kopf in seinen Ellenbogen und versuchte nachzudenken. Nachdenken wäre ein geordneter Prozess gewesen. Was sich in seinem Kopf abspielte, war eine Abfolge innerlichen Zusammenzuckens über das Verhör, flankiert von den beiden ineinander verschachtelten und nicht mehr voneinander trennbaren, mit kühlem Kopf zu betrachtenden Fragestellungen, was noch auf ihn zukäme und wie er sich herauswinden könne.
Er kam von ihnen nicht los, sie waren wie Knoten aufgereiht an einem langen geflochtenen Tau, an dem er hing, ohne Boden unter den Füßen, und er musste sich von Knoten zu Knoten, von der ersten Frage zur nächsten und wieder weiter zur ersten hangeln und sah dessen Ende nicht und konnte sich nicht lösen. Und seine Erschöpfung ähnelte einer körperlichen Verausgabung, ohne dass er ein Ziel erreicht hätte. Er war genauso schlau wie vorher.
Das Schweigen seiner Eltern und dass sie ihn nicht um sich haben wollten, verstand er gut. Er fühlte sich schuldig und hatte sehr genau begriffen, was für eine Schande er ihnen machte. Deshalb war er beinahe froh, dass sie ihn allein ließen. Er war seiner Familie dennoch nahe, näher, als sie zu ahnen vermochten, wenn er die Abende damit verbrachte, die Ohren an das Ofengitter gepresst, die Stimmung im Wohnzimmer auszuloten, und er war von tiefstem Herzen dankbar, sollte er nicht Gegenstand der Gespräche sein, und verkannte dabei, dass es bloße Sprachlosigkeit seiner Eltern war. Gleichzeitig konnte er seine Enttäuschung und das Gefühl, unendlich allein zu sein, nicht ignorieren und die Tränen aus Selbstmitleid und Verlassenheit liefen ihm über die Wangen, wenn die so erhoffte und herbeigesehnte Erwähnung
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