Anderer Welten Kind (German Edition)
Christian spürte, wie er fror. Die Kälte hatte sich jetzt auf seine Haut gelegt und ließ ihn frösteln. Im Haus stand die Luft muffig. Er hatte sich immer noch nicht von der Stelle bewegt, an der ihn von Dülmen hatte stehen lassen. Er hörte draußen in der Nähe eine Tür knarren und nahm an, dass das Geräusch von dem Haus oder Schuppen herrührte, das er beim Aussteigen in dunklen Umrissen ein wenig zurückversetzt wahrgenommen hatte. Von seinem Standpunkt am Ufer aus hatte er es nicht gesehen, zu sehr war er auf das Beobachten des Haupthauses konzentriert gewesen.
Langsam, Schritt vor Schritt setzend, bewegte er sich in den Raum hinein, der vielleicht drei mal vier Meter maß und von dessen linker Wand eine Tür in einen anderen Raum führte, dessen Funktion ihm aber verschlossen blieb, da sie angelehnt war. Zwei Fenster öffneten sich nach vorn neben der Tür Richtung Bootssteg und eins nach hinten. Sie waren mit weißen Gardinen behängt, die unten zusammengebunden waren, sodass sie die Scheiben in dunkle Dreiecke aufteilten. Sie sorgten tagsüber für ein wenig Licht, denn mehr konnte es nicht sein bei dem tief hinabreichenden Dach und dem niedrigen Zimmer, dessen weißgrau verputzte Wände das Licht eher zu schlucken schienen als zu reflektieren. Jetzt spiegelte sich in ihnen das spärliche gelbe Licht der Petroleumlampe. Zuerst erschloss sich Christian nicht, wozu der Raum diente, aber nach und nach enthüllte er sich ihm.
In der Mitte stand ein grob gezimmerter Tisch mit einer Platte aus gewachsten Fußbodenbrettern, dessen dunkelbraune Farbe in dem Schein der Petroleumlampe fast schwarz wirkte. Vier ebenso grobe, offenbar selbstgezimmerte Schemel standen um ihn herum, zwei auf jeder Seite. Sie hatten keine Rückenlehnen. An der Wand rechts neben dem Eingang stand ein klotziges Regal. Anscheinend war die gesamte Einrichtung aus Fußbodenbrettern gefertigt. Es war angefüllt mit drei Paar Wanderschuhen, zwei für Erwachsene, eins für ein Kind, Werkzeug, Kästen mit Nägeln und Schrauben, einem Zinkeimer im untersten Regal. In den beiden oberen Fächern standen Bücher aufgereiht, deren Titel Christian von seinem Standort nicht entziffern konnte. In den mittleren Fächern standen einige leere und andere mit Gurken und roten Früchten gefüllte Einmachgläser aufgereiht. An der Stirnwand lehnte ein Reisigbesen. An einem Nagel hing ein grauer Kittel. Neben dem Regal war ein kleines Waschbecken aus grauer, mit schwarzen Sprüngen wie Adern durchzogener Emaille angebracht, der Wasserhahn fehlte, es ragte nur ein Rohrende aus der Wand darüber. Der Abfluss fiel senkrecht in den Holzboden. Eine Kommode mit drei Schubladen aus einem etwas helleren Holz, vielleicht war es Kiefer oder Buche, stand zwischen den Fenstern. Sonst war der Raum leer. Kein gemütlicher Sessel, kein Stuhl mit einer Lehne, kein Bild, nichts.
Christian stutzte. Irgendetwas kam ihm seltsam vor an diesem Raum. Er wirkte so … unpersönlich, so spurenlos. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Mensch lebte. Als von Dülmen ihn aufgefordert hatte, ihn zu begleiten, stellte er sich sofort vor, die Wirkungsstätte eines Malers zu entdecken, Farbtöpfe, Pinsel, der starke Geruch nach Terpentin, überall Bilder an den Wänden, abgestellte Werke auf dem Boden, halbfertige Entwürfe, Staffeleien, verschmierte Farbreste an den Möbeln, und über allem schwebte die Präsenz eines genialen Malers, hier, in dem intimsten Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Nichts davon. Christian war ernüchtert. Also doch kein Malskat. Eine andere Vorstellung eines Ateliers als eine romantische, aus den Bilderbüchern über den Impressionismus seines Vaters extrahierte, hatte er nicht.
Er sog tief die Luft im Raum ein. Er schnüffelte, zog die Nase kraus und an seinen Riechzellen setzte sich nicht die Spur einer Chemikalie fest. Selbst das Aceton, das seine Mutter bei ihren Fingernagelséancen in den weichen Wattebausch tropfen ließ, roch mehr nach Atelier als dieses Zimmer.
In ihm kroch die Enttäuschung hoch. Noch eine. Nur war es diesmal schlimmer, denn in der ersten heute Nachmittag schwamm noch die Hoffnung mit kräftigen Zügen mit seiner Niedergeschlagenheit um die Wette. Jetzt in diesem Raum, in dem er stand wie bestellt und nicht abgeholt, paarte sie sich mit der Gewissheit, dass er einer Schimäre hinterhergelaufen war. Es war ein Reinfall auf ganzer Linie. War das die Botschaft von Ricky? Sollte er sich selbst davon überzeugen, dass hier kein
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