Anderer Welten Kind (German Edition)
Wasser gluckerte leise, wenn eine Ente oder ein Haubentaucher auf dem Wasser landete oder mit den Flügen schlug. Sonst war es still, der spärliche Verkehr auf der Mühlenstraße verebbte und nur die Busse dröhnten, wenn sie über die Brücke fuhren. Der Schein der Laternen am Ufer erreichte das Wasser nicht; der Nebel verschluckte alles.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wer sich auf dem Bürgersteig aufhielt, wer zielstrebig seinen Weg fortsetzte oder wer, ähnlich ihm, scheinbar unbeteiligt während eines abendlichen Spaziergangs den Wallanlagen zustrebte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs und niemand schien auf ihn zu achten.
Von Dülmen entschied sich, über die Mühlenbrücke zum Mühlenturm zu gehen. Das war stadtbekanntes Revier, riskant, aber dafür mit der Aussicht auf Erfolg belohnt. Normalerweise suchte er schon in den Wallanlagen nach einem Partner, aber heute hatte ihm der Nachmittag mit Christian besonders zugesetzt. Er konnte der Unsicherheit des Jungen nur mit Schroffheit begegnen, sonst hätte er ihn umarmt, und schon in der Kirche versetzte ihn die Vorstellung von einem Fick in Unruhe und er spürte, wie geil er war. Dass sein Ziel nicht Christian sein konnte, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, war ihm klar und er unterließ jeden Versuch der Annäherung. Trotzdem heizte die Anwesenheit des Jungen seine Begierde auf und er wusste, dass es mal wieder so weit war, dass die öffentlichen Anlagen im Moment seinen einzigen Ausweg darstellten.
Der Mühlenturm ragte dunkel und unbeleuchtet über dem Lübeck-Trave-Kanal und bildete den Ausgangspunkt zu den abschüssigen Uferwegen, einer parkähnlichen Anlage, in die tagsüber die an dem Ufer des Kanals ansässigen Ruderbootsvereine ihre sportlichen jungen Männer ausspien, um ihre Runden zu drehen, und die abends im ersten Dämmerlicht Männer jeden Alters flanieren sah. Frauen verirrten sich selten hierher.
In dem schummrigen Licht konnte von Dülmen kaum mehr als ein paar Meter sehen. Ihm begegneten nur wenige Männer, die, wie er, die Wege abgrasten und verstohlen oder ganz offen entweder leicht nickten oder schnell ihre Hand in einer drei- bis viermaligen Onaniebewegung schüttelten. Er blickte starr geradeaus, als ob er nicht dazu gehörte und ihm die Einladungen und Aufforderungen gänzlich unbekannt wären. So leicht wollte er es sich nicht machen, denn trotz dieses eindeutigen Ortes und dieser Ungeschminktheit in den Gesten suchte er in der Erfüllung seiner Begierde auch immer ein romantisches Element, die Möglichkeit, nicht auf die Befriedigung des Triebes reduziert zu sein, sondern eine Liebe zu finden. Er wusste, wie absurd das war, aber bewies seine Anwesenheit nicht, dass es anderen nicht genauso gehen könnte? Seine Enttäuschungen lagen nicht so sehr in der Ernüchterung nach dem Akt in der Wahrnehmung des unwürdigen Szenarios, sondern auch darin, dass seine Hoffnung trog, seiner Einsamkeit, die unmittelbar danach einsetzte, für eine kleine Weile entgehen zu können.
Deshalb suchte er aus den Augenwinkeln heraus die Physiognomien ab nach einem Aufblitzen einer Sympathie, sondierte und versuchte, in den flüchtigen Augenblicken des Vorübergehens etwas herauszufinden, was ihm die Chance eröffnete, auf jemanden zu stoßen, der seine Bedürfnisse teilte.
Zwei Runden später und mit der Kälte in den Gliedern wollte er aufgeben. Die Männer, denen er begegnet war, stießen ihn in ihrer Unverblümtheit ab, besonders der, der seinen Weg dreimal gekreuzt hatte und jedes Mal seine Zunge obszön herausgestoßen und mit schnellen Leckbewegungen sein Angebot unterstrichen hatte. Arme Sau, dachte von Dülmen.
Als er den Weg zum Mühlenturm hinaufging, kam ihm ein junger Mann mit Schirmmütze entgegen, die seine Augen verdeckte, und bekleidet mit einer alten Lederjacke, wie Ernst Thälmann sie getragen hatte, zweireihig, dreiviertellang, das Kleidungsstück der Kommunisten aus den Zwanzigern. Anachronistisch, frech. Niemand, der Wert auf Äußeres legte, würde heute so herumlaufen! Um den bartlosen Mund spielte ein Lächeln und als er von Dülmen passierte, schien es, als wenn er ihm direkt ins Gesicht sähe. Sonst nichts. Von Dülmen zögerte. Er ging langsam weiter. Dann drehte er um und dachte: Mal sehen, ob ich noch eine Runde drehen muss.
Er bemerkte ihn sofort. Unten am Uferweg stand er, an einen Baum gelehnt, den einen Fuß angewinkelt gegen den Stamm gedrückt, eine Hand in der Tasche, die andere hielt eine Zigarette,
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