Anderer Welten Kind (German Edition)
aufgetan und ihre Anziehungskraft war gewaltig und die galt es zu verteidigen, wollte er nicht hängen bleiben an Mutters Rockzipfeln. Die HIAG und die alten Werte, das ging nicht mehr für ihn, das passte nicht zusammen, das passte überhaupt nicht mehr zusammen; er wollte auch Rock ’n’ Roll hören dürfen, in voller Lautstärke, und nicht länger heimlich, mit an das einem alten Volksempfänger ähnlichen Gerät gepressten Ohren, aus dem der krächzende auf- und abschwellende Matsch des englischen BFN-Senders reichen musste, seine Sehnsüchte zu befriedigen mit Chuck Berry, Bill Haley und dem unglaublichen Elvis Presley, mehr geahnt als gehört. Und Bluejeans und eine Lederjacke und Haare wie Ricky, und Bluejeans, Bluejeans.
Deshalb nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: „Ich will das nicht mehr, die HIAG und diese Treffen und das ganze alte Zeug. Und es stimmt gar nicht, dass ich begeistert war, ich fand das furchtbar.“
Erschrocken hielt er inne. Sein Vater war aschgrau im Gesicht geworden; seine Hände hielten sich an der Tischkante fest, bis die Knöchel weiß hervortraten. Er schwieg, schaute seinen Sohn an und ahnte in diesem Augenblick, dass er ihn verloren hatte. Alle seine Hoffnungen waren zerplatzt. Sein Stolz auf Christian, der sich mit Stefan zusammen so vorbildlich den Kameraden gegenüber verhalten hatte, die Erhöhung durch Haussers Geste, das stille Einverständnis zwischen Vater und Sohn, für dieselben Werte einzustehen, die wunderbare Freundschaft der Kremer- und Lorenz-Männer waren Makulatur angesichts dieses einen Satzes. Das ganze alte Zeug. Er atmete noch einmal tief durch, stand dann mit bedächtigen Bewegungen auf und verließ schweigend das Wohnzimmer. Leise schloss er die Tür zum Schlafzimmer.
„Musste das denn sein? Du weißt doch, dass Papa ganz andere Sorgen hat. Und er hat sich so auf dich gefreut. Überleg es dir noch einmal und morgen sagst du ihm, dass du es nicht so gemeint hast. Komm, Junge.“ Ingeborg strich ihrem Sohn über den Kopf.
„Er hat es so gemeint“, sagte Renate, die ihren Bruder kannte und wusste, welche Angst er vor seinem Vater hatte.
„Ja, hab ich, blöde Kuh“, sagte Christian mit einem giftigen Blick in ihre Richtung und an seine Mutter gewandt sagte er: „Schau mal, Mama, kannst du das nicht verstehen? Der Krieg ist vorbei. Was habe ich damit zu tun? Und du warst nicht dabei, wie sie ‚Heil Hitler‘ geschrien haben. Da bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun. Nein, ich fahr nicht mit.“
Ingeborg hob resignierend die Schultern, tätschelte Christians Hand, dann stand auch sie auf und sagte zu Renate im Vorübergehen, sie solle den Tisch abräumen, und folgte ihrem Mann ins Schlafzimmer.
Christian lag auf seinem Bett. Er starrte zur Decke und ließ den Abend Revue passieren. Er hatte sich den Wünschen seines Vaters widersetzt. Nicht zum ersten Mal, aber in einer so grundsätzlichen Sache, das war etwas Neues. Das war ein persönlicher Sieg, ein Überwinden seiner Ängste, wobei sich in seine kleine aufkeimende Euphorie die Gestalt seines Vaters mischte, wie er das Zimmer verlassen hatte und der Schmerz über seine Absage ihm die Schultern heruntergepresst zu haben schien, und sein schlechtes Gewissen stellte sich ein. Er stand auf und drückte sein Ohr gegen das Ofengitter, um das Gespräch seiner Eltern zu belauschen. Aber im Schlafzimmer blieb es still.
Christian legte sich wieder auf sein Bett, nachdem er das Tagebuch aus seinen Sportsachen hervorgekramt hatte. Er hielt es in den Händen, drehte es unschlüssig hin und her, spielte an dem kaputten Verschluss herum, strich über die vergoldeten Ränder, war noch nicht bereit, darin zu blättern, zu sehr war er weiterhin von der Szene beeindruckt, deren Verursacher er gerade gewesen war.
Dann gab er sich einen Ruck und öffnete das Tagebuch seiner Großtante Hermine. Er suchte nach bestimmten Einträgen, an die er sich erinnerte, irgendetwas mit Schlägen und Schluss-Machen. Warum er gerade diese Tage suchte, ahnte er nur. Dann hatte er sie gefunden.
Allenstein d. 26. II. 25 Donnerstag
Ich weiß wirklich nicht mehr was ich tun soll. Franz ist immer so furchtbar unfreundlich zu mir. Wenn ich bloß nicht so feige wäre, dann würde ich schon längst Schluss gemacht haben. Aber ich habe Angst, bloße Angst, vor den ersten Tagen nach der Entlobung. Ich habe ihn doch so lieb. Wenn er wüsste wieviel bittere Tränen ich weine, wenn ich allein bin. Vielleicht wäre er dann doch
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