Anderer Welten Kind (German Edition)
anders. Ach Gott, warum habe ich ein so furchtbar schweres Leben? „Lieber Gott hilf mir doch!“ Ich will noch versuchen mit ihm freundlich zu sein. Vielleicht hilft es.
Braunsberg d. 18. III 1925
Gestern nachdem ich mein Tagebuch geschrieben habe, gingen Franz und ich zur Bahn. Unterwegs haben wir uns gezankt. Warum weiß ich gar nicht und plötzlich versetzte Franz mir so einen Schlag ins Gesicht, dass das Blut gleich in Strömen floss. Ich war 5 Minuten wie betäubt. Meine Lippe schwoll ganz dick an. Ich wusste in dem Augenblick nichts mehr. Ich wusste nicht wie ich auf die Strasse kam, gar nichts. Langsam kam erst die Erinnerung. Mein Kopf tat mir den ganzen Tag so sehr weh. Zuerst nahm ich mir fest vor nach Hause zu fahren, aber ich hatte ja kein Geld. Und nachdem hatte ich mich doch wieder vertragen. Ob es richtig war ich weiss es nicht. Ich habe ihn allerdings sehr gereizt das gebe ich zu. Aber ein Mann darf sich nie so weit vergessen, dass er eine Frau schlägt. Lieber Gott hilf du mir, dass ich das richtige tue. Gestern spielten wir in Braunsberg. Es war ganz schön besucht. Franz, Frau Sörgel, Schlehmann und ich wohnen bei Löhrmanns. Heute um ¾ 3 fahren Franz und ich nach Hause. Morgen geht’s nach Elbing.
Christian suchte nach Hinweisen, die sein eigenes Verhalten ihm verständlich machen konnten. Tante Hermine wollte Schluss mit ihrem Verlobten machen, schaffte es aber nicht und selbst, als Franz sie schlug, trennte sie sich nicht von ihm. Das kam erst viel später, nachdem er sie verlassen hatte.
Ging es ihm nicht ähnlich? Wenn er es recht betrachtete, war auch er nicht in der Lage, offensiv und selbstbewusst für seine Sachen einzustehen. Eine Schwäche, der er sich nicht erwehren konnte. Außer heute Abend und diese Suppe war noch lange nicht ausgelöffelt, das wusste er. Tante Hermine hatte sich eingeredet, aus Liebe nicht anders handeln zu können, immer aus Liebe, wenn sie sich von Willy nicht trennen konnte, Werner nicht verletzen wollte. Aus Liebe, oder war es eher aus Angst vor dem Verlassenwerden, vor dem Alleinsein? Versteckte sie sich hinter der Liebe, wie er sich vor möglichen Zurückweisungen oder Konflikten versteckte? Hatte er diese Rumeierei – denn das war sie, auch darüber machte er sich nichts vor – von Tante Hermine geerbt? Er redete es sich ein bisschen ein, ein Erbe, familienbedingt, also lag nicht alle Verantwortung und Schuld bei ihm. Es gab noch mehr Hinweise in dem Tagebuch, aber jetzt war er zu müde, um sie zu suchen, und zu erschöpft von der Auseinandersetzung und immer noch zu stolz, ein bisschen wenigstens, seinem Vater nicht gehorcht zu haben. Ohne die letzten Tage wäre der Abend anders verlaufen. Darüber schlief er ein.
7. Kapitel
In der Fotovitrine von Radio Pahlke in der Mühlenstraße, die den Krieg auf der linken Straßenseite stadtauswärts fast unbeschädigt überstanden hatte, war das Loewe Opta Radio für 159 DM ausgestellt, das sich Christian so sehnlichst wünschte. 159 DM, es war das billigste in dem Sortiment, dennoch war es so unerreichbar wie der Mond. Es entsprach aber genau seinen Vorstellungen: klein, kompakt, links das leuchtende Auge und die Skala mit den exotischen Senderstationen, rechts der Lautsprecher hinter grauem Stoff und vor allem alle Wellenbereiche von lang bis ultrakurz, sodass er endlich seine geliebte Musik störungsfrei empfangen könnte. Der Lautsprecher – mit besonders niedrigen Hertzzahlen, wie der Verkäufer versicherte – klang voll, ohne den sich Rock ’n’ Roll blechern anhörte wie die Schlager seiner Eltern. Das hatte er schon einmal überprüft, als er sich in dem Geschäft kundig gemacht hatte. Helga und Christian standen vor dem Schaufenster und Christian erklärte ihr die technischen Details, die er sich gemerkt hatte und die sie mit einem kleinen Lächeln bedachte.
„Ich hab das Geld nicht und meine Eltern könnten es mir nicht schenken, selbst wenn sie wollten“, sagte Christian.
Er vermied es, seine Stimme traurig oder bedauernd klingen zu lassen, und gab ihr eine feste, neutrale Färbung. Helga hängte sich bei ihm ein und drückte seinen Arm, was ihm entschieden missfiel – er ließ es sich nicht anmerken –, sie spürte hinter seiner scheinbar unbeteiligten Stimme die Scham. Seine Armut machte ihr weniger aus als ihm; sie kannte nicht das Gefühl, sich Dinge versagen zu müssen. Natürlich bekam sie auch nicht alles, was sie wollte, aber das waren erzieherische Maßnahmen, gegen die sie
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