Anderer Welten Kind (German Edition)
aufbegehren konnte oder auch nicht, denn sie wusste zu unterscheiden, was ihr wichtig war; der Verzicht aus Mangel, diese Erfahrung war ihr nicht in die Wiege gelegt.
Die letzten Tage waren unbeschwert gewesen. Seit sie offen als Paar auftraten, verbrachten sie viel Zeit miteinander und steckten oft ihre Köpfe zusammen, was einen Anstrich von Intimität und Vertrautheit verlieh. Ihr Verhältnis wurde so unkompliziert, dass sich Christian fragte, wieso er nicht selbst auf die Idee gekommen war, Helga anzusprechen.
Sie hatten sich zusammen den Film Liane, die weiße Sklavin mit Marion Michael und Adrian Hoven angeschaut und Christian war über den nackten Busen von Marion Michael nicht aus dem Häuschen geraten; er schaute dennoch sehr genau hin, blieb aber in seiner Körperhaltung souverän distanziert, fast lässig, den Arm um Helgas Schultern gelegt, der noch nicht einmal zuckte.
Seit er die Brust von Helga streicheln durfte, fühlte er sich der Pubertät mit ihren kindischen Äußerungen entwachsen. Die Frühreifen mit Heidi Brühl, Peter Kraus, Sabine Sinjen und Christian Wolff fanden sie beide albern, zu künstlich, das war nicht ihre Sprache; Klischee, typisch Erwachsene, die meinten, die Jugend von heute zu kennen. Vor allem Peter Kraus, der selbsternannte Rock ’n’ Roller, in seinen hochstaplerischen, nachgeahmten Posen, den an den Knien zum X einknickenden Beinen, das Pferdelächeln in die Kamera, hinter dessen Attitüde doch nur ein Muttersöhnchen steckte, wenn man Elvis als seinen Gott ausgesucht hatte! Sie ähnelten wirklich alle zu sehr Caterina Valente, nur auf jugendlich getrimmt. Deutsche Ausgaben eines James Dean, einer Natalie Wood oder eines Jerry Lee Lewis mit seinen Great Balls of Fire waren nicht in Sicht.
Ricky von Dülmen und Malskat waren für einen Moment in den Hintergrund getreten, obwohl Christian nach wie vor den dringenden Wunsch verspürte, Malskat endlich zu begegnen. Seine Neugierde auf ihn war noch gesteigert worden, nachdem er seine Freunde kennengelernt hatte. Wullenvewer zählte er gefühlsmäßig dazu. Ihn erfasste jedes Mal eine unbestimmte Unruhe, ein kleiner Stich durchs Herz, wenn er an Ricky dachte, er war immerhin sein Tor zur Welt und das wollte er auf keinen Fall schon geschlossen sehen. Gleich Montag, nahm er sich vor, wollte er nach der Schule im Venezia vorbeischauen.
Er hatte von Helga erwartet, dass sie sich nach ihrem verunglückten Auftakt im Eiscafé Venezia zurückzöge, und hatte ganz ängstlich den Schulbeginn am nächsten Morgen belauert, aber Helga war gleich auf ihn zugekommen und hatte ihn vor der ganzen Klasse, ein wenig linkisch und unbeholfen mit einer Spur Unsicherheit, jäh umarmt, ihre Vorstellung eines offenen Umgangs mit den Tatsachen. Gerüchte und Hinter-dem-Rücken-Gerede hasste sie. Ihren Eltern hatte sie ebenfalls kurz mitgeteilt, dass sie jetzt mit Christian ginge. Auch hatte sie Ricky nicht wieder auf die Tagesordnung gebracht und Christian hatte das Thema vermieden, dankbar für die geschenkte Frist.
Stefan, als er die Umarmung beobachtet hatte, hatte wieder befremdlich geschaut und dann eingeschnappt, weil er nicht informiert worden war. Christian konnte ihn beruhigen, es hätte sich ja erst gestern ergeben und sie hätten sich nicht gesehen, er sei auch damit vollkommen überfallen worden, er sei aber gern bereit, ihm alles haarklein zu berichten. So ließ sich für Stefan wenigstens Christians merkwürdiges Verhalten der letzten Tage erklären. Außerdem hatte er heimlich wieder Kontakt zu Frau Sänger aufgenommen, um genauer zu sein, Frau Sänger hatte ihn, als er eines späten Nachmittags kurz nach Karlburg die Lorenz-Wohnung verlassen hatte, kurzerhand abgefangen und in ihre Wohnung gezogen und es war nicht nur bei Zigaretten und Erwachsenen-Gesprächen geblieben. Er hatte kein schlechtes Gewissen, Christian diese erste veritable Liaison seines Lebens zu verschweigen. Frau Sängers Bedingung diesbezüglich war knapp und eindeutig gewesen.
Samstagnachmittag, Schaufensterbummel, schönes Wetter mit einem klaren, blauen Himmel und Schäfchenwölkchen und Albert Camus, der hatte heute den Nobelpreis für Literatur erhalten, wusste Helga zu berichten, die begeistert Die Pest gelesen und schon einige Male versucht hatte, Christian für den französischen Schriftsteller zu begeistern. Bei Anny Friede am Kohlmarkt schauten sie sich die Wintermode an und Helga, die nach einem neuen Wintermantel Ausschau hielt, war ganz eingenommen
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