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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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lateinische Vokabeln. Mädchennamen und Herzen mit Anfangsbuchstaben. Die Oberfläche erweckte den Anschein eines sorgfältig komponierten Kunstwerkes über die Verelendung der gepeinigten Schülerseele. Es war eine Deichmauer gegen die Wortflut ihrer Lehrer.
    „… und welche Funktion des Lachens finden wir in Kabale und Liebe? Christian?“
    Christian schreckte hoch. Er war weggewesen, weit, weit weg. Er hatte endlich Malskat kennengelernt und befand sich mitten in einem Gespräch mit ihm darüber, wie lange es gedauert und wie viele Nachmittage er am Ufer verbracht hätte. Er fuhr hoch, sah sich hilfesuchend um, aber es war niemand da, der ihm hätte etwas zuflüstern können. Sein Tischnachbar Hartmut Gericke glotzte leer, von dem kam nie etwas.
    „Äh, ich habe Ihre Frage nicht verstanden. Können Sie sie wiederholen?“
    „Aha, nicht verstanden … Hmmm … Sie machen eher den Eindruck auf mich, nicht bei der Sache zu sein.“
    Wenzels Mund umspielte ein kleines Lächeln. Er gehörte zu den jungen Lehrern, die am Katharineum ihr Referendariat ableisteten. Voller Enthusiasmus glaubte er noch daran, dass jeder oder fast jeder Schüler sich gewinnen ließe für das Experiment eines offenen Geistes. Er musste nur richtig angesprochen werden. Er jedenfalls hatte in seiner Schulzeit, die so lange noch nicht zurücklag, einen solchen Deutschlehrer gehabt, der ihm die Augen und Sinne für die Schönheit der Sprache geöffnet hatte. So einer wollte er werden. Von einigen seiner Kollegen wusste er, dass sie in der Pädagogik mit Büffeln, Kopfnüssen und Linealschlägen auf die hingehaltene Hand den größeren Nutzen sahen. Hätte ihnen ja auch nicht geschadet, wie sie in Konferenzen betonten und sich gegenseitig bestätigend zunickten.
    Zu seinem Repertoire gehörte Angstmachen nicht und die Schüler der Untersekunda dankten es ihm nicht. Entweder nutzten sie die Zeit, wie Christian jetzt, nicht bei der Sache zu sein, oder sie reagierten auf ihn mit offener Verachtung. Stefan Hilmers zum Beispiel, der um Lehrer wie Sudowski, Erdkunde, herumschlich und Interesse heuchelte, obwohl Sudowskis Repertoire mit Brüllen und Zusammenscheißen und Schlechte-Noten-Verteilen – er hatte ein Heft, in dem er sie penibel notierte und sie zu Beginn der Stunde laut vorlas – schon erschöpft schien.
    „Also Christian, wie wird in Kabale und Liebe gelacht?“
    Christian kam die Frage vollkommen blödsinnig vor.
    „Wie gelacht? … Halt gelacht.“ Er schüttelte den Kopf und schwieg.
    „Glauben Sie? So einfach macht es uns der alte Schiller nicht … Gut … Äh, nicht gut, passen Sie besser auf.“
    Christian durfte sich setzen.
    „Na, dann schauen wir uns mal die Regieanweisungen von Schiller an. Schlagen Sie auf: 1. Akt, 7. Szene: Präsident schlägt ein Gelächter auf. Wie würden Sie dieses Lachen beschreiben?“
    Und während sie Szene für Szene durcharbeiteten und schließlich die Tafel sich mit Begriffen wie lacht voll Bosheit, lacht wütend, mit beißendem Lachen, lacht erbittert, mit schmerzvollem Lächeln, lacht beleidigend vor sich hin, hämisch, sehr hämisch lachend füllte, war Christian schon wieder woanders, bei Ricky und Helga und seinen Nöten, beide unter einen Hut zu kriegen. Wenzel ließ ihn in Ruhe.
    Als er referierte, dass in den Zeiten, bevor die Kleinfamilie entstand, die Liebe in den Familien noch keine Rolle spielte, beim Adel sowieso nicht und in der bürgerlichen oder bäuerlichen Großfamilie auch nicht, wurde Christian von seinen Gedanken abgelenkt. Alles, was mit Liebe zu tun hatte, zog ihn, den Suchenden und Zweifelnden, in seinen Bann. Von da an hörte er sehr genau zu, wie Wenzel ein historisches Bild entwarf, in dem die Liebe zwischen den Eltern dem Volk erst anerzogen werden musste, dass Ehen nicht mehr nur wegen gegenseitiger Vorteile gestiftet wurden, dass Eltern plötzlich ihre Kinder lieben mussten, anstatt sie zu prügeln, um die Erbsünde aus ihnen herauszutreiben, nur, weil sie plötzlich in der Kleinfamilie als Vater-Mutter-Kind lebten und die Liebe und vor allem die Treue und Tugend der Kitt waren, der sie zusammenhielt. Denn infolge der Entwicklung arbeitsteiliger Produktion musste der Mann sich immer mehr außer Haus verdingen. Ohne die Liebe oder zumindest eine einvernehmliche Absprache wäre ja so eine Enge einer kleinen Familie gar nicht auszuhalten gewesen.
    Er meldete sich, was äußerst selten vorkam.
    „Wenn also die Liebe zwischen Vater und Mutter … äh … nur dem

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