Anderer Welten Kind (German Edition)
Erhalt der Familie dient, dann gibt es ja eigentlich gar keine richtige Liebe, dann ist die ja irgendwie nur … nur erfunden worden.“
Christian mochte sich gar nicht zu Helga hindrehen, die schräg seitwärts von ihm saß. Er fühlte sofort den Verrat, der in der Frage lag. Er spürte ihren Blick und malte sich aus, wie sie die Stirn runzelnd dasitzen und ihn anschauen würde. Er hätte die Frage nicht stellen dürfen, sie offenbarte all seine Zweifel. Deshalb stellte er sie mit zu lauter Stimme, trotzig und fast ein wenig schrill, und er merkte den falschen Ton, konnte ihn aber nicht abstellen. Sie war ihm so dringend, als wenn in ihrer Beantwortung der Schlüssel für seine Zweifel läge. Es war wie eine Erkenntnis. Er spürte genau, dass er diese Gedanken zum ersten Mal dachte. Er war überwältigt. Er konnte sich plötzlich vorstellen, wenn Wenzel sie positiv beantwortete, er gleichsam eine historische Begründung für seine Unfähigkeit, Helga zu lieben oder nicht benennen zu können, was Liebe für ein Gefühl sei, geliefert bekäme. Helga nicht zu lieben, hatte er bisher als persönliches Versagen empfunden, als Mangel an seinen Fähigkeiten. Obwohl das, was ihn mit Helga verband, bildete er sich ein, so etwas wie der Liebe oder dem Verliebtsein schon sehr nahe kämen. Plötzlich erhielt auch Tante Hermines Untreue eine vollkommen neue Bedeutung, weil sie instinktiv begriffen hatte, dass die eheliche Treue auferzwungen war und Liebe nicht unbedingt etwas mit einer Eheschließung zu tun haben musste. Dass es Untreue gab, wusste er natürlich, auch dass sich Eheleute hassen konnten oder aneinander vorbeilebten, aber dass Liebe eine Frage gesellschaftlicher Konvention war, das war ihm neu.
„Na, so ist das auch wieder nicht.“
Wenzel überlegte einen Augenblick.
„Wir reden über eine historische Situation und welche Rolle das Drama darin spielt. Natürlich gibt es die Liebe und sie kommt öfter vor, als man glaubt“, dabei sah er Christian direkt in die Augen, „aber im historischen Zusammenhang, den wir untersuchen, war das neu, jedenfalls für eine Ehe. Dass Ferdinand seine Luise liebt, das ist ja unbestreitbar.“
Er fuhr fort: „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, das bürgerliche Trauerspiel und das Lachen. Wissen Sie, es hatte auch die Aufgabe, in seiner Kritik an den Lebensverhältnissen des Adels und der Darstellung der Moralvorstellungen des Bürgertums die Moral der Bürger zu stärken. Und“, er schloss, dabei mit dem Kopf nickend, „haben Sie ein Lachen gefunden, das freundlich, erlöst, sozusagen aus vollem Herzen daherkommt? Nein? Sie haben vollkommen recht, das gibt es in Kabale und Liebe nicht. Das Lachen des Adels als bösartiges und das des Bürgers als hilfloses, ausgeliefertes, schmerzvolles war von Schiller bewusst eingesetzt worden, um seine Sicht der Dinge und die seiner Zeit zu verarbeiten, in der das Bürgertum erstarkte und wagte, den Adel zu kritisieren, aber gleichzeitig seiner Willkür ausgesetzt war.“
Christian nahm sich vor, demnächst besser aufzupassen, wenn so altes Zeugs wie Kabale und Liebe solche überraschende Einsichten parat hielt.
In der Pause bemühte er sich um Helga. Er musste herausfinden, ob sie etwas gemerkt hatte. Er war innerlich vollkommen aufgedreht. Er schlich um sie herum, dann nahm er sich ein Herz und baute sich vor ihr auf, konnte aber keinen der Situation angemessenen Satz zustande bringen, deshalb redete er auf sie ein, fragte sie, ob sie die Deutschstunde auch so spannend gefunden hätte, war besessen von der Geschichte der Liebe, immer noch mit zu lauter Stimme, wiederholte mehrmals, dass die Entwicklung der Kleinfamilie ein Glück sei, von dem sie heute noch profitierten, und zwinkerte ihr dabei zu. Er wurde immer wirrer, redete sich um Kopf und Kragen, verrannte sich hoffnungslos. Es sollte eine öffentliche Demonstration seiner Zugewandtheit sein, es sollten alle mitbekommen, wie sehr verliebt er war. Er hoffte inständig und in einem Anflug von Panik, dass Helga sich ihm nicht verweigerte.
Sie blieb stumm, blickte ihn entgeistert an, schien fast ein wenig ratlos, drehte sich dann weg, begann stattdessen ein Gespräch mit einer Klassenkameradin und ließ ihn stehen. Er machte einen Schritt auf sie zu und versuchte, ihre Schulter herumzudrehen, immer noch redend. Sie löste sich mit einem Ruck, unwillig.
„Lass mich“, sagte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, hakte die Klassenkameradin unter, die peinlich berührt zur
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