Anemonen im Wind - Roman
Wärme beschlagen.
Ellies Blick wanderte über den Hof und die Rinderpferche, vorbei an der Sattelkammer, der Schmiede und dem Werkzeugschuppen bis zum Kornspeicher. Ein Schwarm Gallahs mit rosaroter Brust erhob sich von den Zweigen der Pfefferbäume und kreiste als prachtvolle Wolke über der Koppel, wo die Hütepferde unter den welkenden Gummibäumen grasten. Kookaburras gackerten, und die schrillen Rufe der Elstern unten am Bach waren die süßesten Klänge, die sie je gehört hatte.
Ellie wandte sich vom Fenster ab und seufzte. Dieses Zuhause stand in solchem Kontrast zu denen, die sie in den letzten fünf Jahren gehabt hatte, dass sie sich fehl am Platze fühlte. Obwohl ihre Tante so freundlich und alles so wunderbar war, kam sie sich verloren vor.
Nach dem hübschen Haus in Surrey Hills mit seinem kleinen Garten und der adretten Fassade war die Domain ein Schock gewesen. Die behelfsmäßigen Zelte und Hütten dort wimmelten von Ratten, und zu dem Mangel an Essen und anständiger Kleidung hatten sich der Gestank und der Schmutz der Armut gesellt. Dad hatte sein Bestes getan, aber sie hatte gewusst, dass er sich keinen Rat mehr wusste und am Rande der Verzweiflung stand. Ellie hatte im Slum rasch Erfahrung gewonnen. Sie hatte gelernt, unachtsame Ladenbesitzer zu bestehlen und die Mülltonnen hinter den schicken Restaurants zu durchwühlen, die es in der Stadtmitte immer noch gab. Ernährt hatten sie sich von Almosen und dem, was es in den Suppenküchen gab. Sie hatten sich die verlausten Wolldecken in den Obdachlosenheimen der Heilsarmee geteilt, gewärmt von den Hunderten von Körpern, die sich dicht auf den blanken Bodendielen aneinander gedrängt hatten, als der Winter einsetzte.
Danach war das Leben auf der Straße sehr viel angenehmer gewesen als der beständige Hunger. Sie hatten zwar oft in Gräben oder in hohlen Bäumen schlafen müssen, aber sie hatten doch das Gefühl gehabt, ihr Schicksal wieder selbst in der Hand zu halten, als sie sich auf den Weg nach Warratah gemacht hatten. Das Leben war hart gewesen, die Umgebung unwirtlich, aber sie waren einander näher gekommen, als sie es je zuvor gewesen waren. Sie waren aufeinander angewiesen gewesen, und das hatte eine feste Verbindung zwischen ihnen geschmiedet.
Ellie wischte sich die Tränen ab und legte die Wange an diekühle Fensterscheibe. Dad hatte seinen Stolz wiedergefunden; er hatte gelernt, zu reiten und mit den harten Männern zusammenzuarbeiten, die hier draußen lebten. Er hatte sich damit abgefunden, dass er alles verloren hatte, und sich allmählich darauf gefreut, hierher zu kommen und einen neuen Anfang zu machen. Aber das Schicksal hatte sich als grausam erwiesen.
Sie schniefte und schaute wieder aus dem Fenster. Clipper wurde rund, sein Fell glänzend, und der alte Grauschimmel schien auch wieder aufzuleben, nachdem er nicht mehr zu arbeiten brauchte. Wenn ich doch nur auch so zufrieden sein könnte!, dachte Ellie betrübt. Wenn ich mich doch zwischen Tante Aurelia und Mum nicht so in der Klemme fühlen müsste – und wenn Dad mir nicht so sehr fehlen würde!
Es klopfte kurz an ihrer Tür, und im nächsten Moment stand Alicia im Zimmer. »Hier versteckst du dich also«, sagte sie munter. »Ich finde, es wird Zeit, dass du aus diesem grässlichen alten Overall herauskommst und versuchst, wieder Mummys kleines Mädchen zu werden.« Sie deponierte einen Stapel zarter Kleider auf dem Bett. »Ich wusste nicht so genau, welche Größe du hast; deshalb habe ich eine Auswahl aus New York mitgebracht.«
Uninteressiert beäugte Ellie Volants und Schleifen, weiße Kragen und Gänseblümchenmuster. »Ich bin fast vierzehn«, sagte sie eisig. »Die hier sind für Kinder.«
Alicia ließ das Bett wippen, als sie sich auf der Decke niederließ und eine Zigarette anzündete. »Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit so anziehen«, sagte sie entschlossen. »Es wird Zeit, dass du dein Leben auf der Straße vergisst und in die Zukunft blickst.« Sie blies den Rauch zur Decke und betastete mit flacher Hand ihr blond gebleichtes Haar. »In eine Zukunft, in der du Kleider tragen und auf Partys gehen wirst, statt mit ungebildeten Eingeborenen die Ställe auszumisten und mit wandernden Viehtreibern draußen auf den Weiden zu übernachten.«
Ellie betrachtete die scharf geschnittenen Gesichtszüge und erkannte erstaunt, dass sie nichts für diese Frau empfand. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sich vor lauter Sehnsucht nach ihrer Mutter in den
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