Angel 01 - Die Engel
sich sein Verstand wieder, und die Bewegungsfähigkeit kehrte in seine Glieder zurück. Sein Gehirn schlug ihm ein Dutzend Lösungen für die Situation vor, einige durch Erfahrung erworben, andere aus den Geschichten anderer Cops gesammelt. Alles, was er tun konnte, barg ein gewisses Risiko, und es war dabei entscheidend, den Charakter des Angreifers zu kennen, aber diese wertvollen Informationen hatte Dave nicht. Der Junge war ihm völlig fremd. Dave beschloss, dem Jungen die unverrückbare Überzeugung einzupflanzen, dass er sterben würde, sobald er auf die Frau schoss. Solange der Junge kein totaler Psychopath war, würde ihm sein eigenes Leben etwas bedeuten, und das Ganze würde funktionieren.
Dave zog seine Pistole aus dem Holster und dachte: Noch nicht schießen, Kleiner. Warte noch. Warte.
Dann stieß er die Tür ganz auf und sagte sanft: » Sobald du abdrückst, werde ich dein Gehirn an den Wänden verteilen, Junge.«
Der Junge sprang vor Schreck in die Luft, und Vanessa stieß einen überraschten Schrei aus. Dummerweise zeigte die Waffe immer noch auf sie, auch wenn der Lauf jetzt gesenkt war. Wenn der Kleine jetzt abdrückte, würde die Kugel in ihre Brust einschlagen. Kurz schoss Dave der Gedanke durch den Kopf, dass der Finger durch seinen unangekündigten Auftritt noch enger am Abzug liegen könnte.
» Leg einfach die Waffe weg, schön langsam«, befahl Dave. » Wenn du auch nur mit der Wimper zuckst, werde ich dich erschießen.«
Es verging eine Ewigkeit, bevor die Worte das Gehirn des Jungen erreichten. Daves Erfahrung verriet ihm, dass der Junge durch das Adrenalin (oder irgendetwas anderes) absolut high und weggetreten war. Seine Hände zitterten, sein Gesicht war schweißnass, seine Pupillen erweitert. Er war durch und durch angespannt, jeder Muskel und jede Sehne zum Sprung bereit. Ein Fehler, ein externer Faktor wie eine Sirene auf der Straße, ein klingelndes Telefon oder ein Schrei aus der Nachbarwohnung konnte den Finger am Abzug dazu bringen, dass er abdrückte. Jetzt musste man mit höchster Vorsicht vorgehen, als wollte man eine zarte Blume pflücken oder einen Schmetterling fangen.
» Wo bist du, Junge? Komm wieder runter, aber langsam, ganz langsam. Entspann dich, ein Schritt nach dem anderen. Lass die Waffe einfach auf den Boden fallen. Lass sie fallen.«
Aber die schlanken Finger hatten sich um den Griff der Waffe verkrampft. Dave verfluchte ihn wortlos, da er wusste, dass er es hier mit einem extrem nervösen Gangster zu tun hatte. Einige von ihnen konnte man kleinkriegen, ihre Gehirne waren wie verstopfte Rohre, die nur auf den Klempner warteten, der sie wieder freimachte. Aber der hier war ein anderes Kaliber, bei ihm rauschten Blut und Adrenalin wie eine Flutwelle durch den Körper.
» Ganz ruhig, Junge«, murmelte Dave. » Es ist vorbei. Leg die Waffe vorsichtig hin. Wenn du es richtig machst, wird gar nichts passieren. Jetzt …«
Der Junge stieß geräuschvoll die Luft aus, erschreckte sich bei dem Geräusch selbst, und da wurde Dave klar, dass der Kleine seit seinem Erscheinen in der Tür die Luft angehalten hatte.
» Nicht schießen …«, sagte der Junge.
Das war ein gutes Zeichen. Immerhin hatte er erkannt, dass er in Lebensgefahr schwebte. Er wollte nicht sterben. Was auch immer er sich von dieser Situation versprochen hatte, der Tod stand nicht auf seiner Liste, das war sicher. Plötzlich ließ er die Pistole noch weiter sinken und drehte sie dabei zur Seite. Jetzt zeigte sie auf den Kleiderschrank, und Dave war kurz versucht, den Jungen zu erschießen, bevor er herumwirbeln und abdrücken konnte. Ein anderer Polizist hätte es vielleicht getan und wäre vor Gericht auch damit durchgekommen, aber Dave war Mutter Teresa.
» Lass sie einfach fallen, Kleiner. Sofort.«
Endlich folgte der Junge dem Befehl.
Dave ging zu ihm rüber und trat die Waffe, eine kleinkalibrige italienische Pistole, in eine Zimmerecke. Sie schlug gegen die Wand, ein Schuss löste sich und die Kugel schlug in den Putz. Dave erkannte, dass die Waffe schon entsichert gewesen war.
» Jesus«, seufzte er.
Der Junge musterte Dave aus dem Augenwinkel, und als er dessen Wut sah, zuckte er zusammen. Offenbar erwartete er, unverzüglich bestraft zu werden, wie ein kleiner Junge, der eine Ohrfeige verpasst bekommt, wenn er beim Frühstück eine Tasse umschmeißt. Er stöhnte kurz und duckte sich weg, wobei er schützend die Hände um den Kopf legte.
Dave schwitzte, seine Hände waren nass, aber
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