Angela Merkel - Ein Irrtum
davon will niemand etwas hören. Die Rentner sind zahlreich und werden immer mehr, unter ihnen finden sich die treuesten Wähler. »Die Renten sind sicher« war und ist die notwendige Lebenslüge der Politik, auch nach Norbert Blüm.
In der Nachkriegszeit konnte man noch mit dem Bild der ausgemergelten Kriegerwitwe operieren, die fünf Kinder allein durchbringen muss, um effektvoll von den Schwachstellen des Systems abzulenken. Doch diese Geschichten ziehen nicht mehr. Nicht die heutigen Rentner, die künftigen müssen sich Sorgen machen.
In aller Kürze: Die ursprünglichen Voraussetzungen für dieses Rentenmodell – ein angemessenes Verhältnis zwischen
Erwerbstätigen, die in die Rentenkassen einzahlen, und jenen, die Rente beziehen, plus glänzender Konjunktur – stimmen schon lange nicht mehr. Dafür gibt es mehr als einen Grund.
Zum einen sank die Zahl der Geburten und damit die Zahl derer, die künftig zumindest erwerbs fähig sein könnten (ob sie dann auch erwerbs tätig sind, steht auf einem ganz anderen Blatt). »Kinder kriegen die Leute immer«, hatte Adenauer noch behauptet, der gern in Kauf nahm, dass sein Rentenmodell ihm Wählerstimmen garantierte, ohne dass er sich über dessen Nachteile Sorgen machen musste.
Doch eine geringere Zahl Erwerbsfähiger ist keineswegs der einzige Grund, warum sich das Verhältnis zwischen tatsächlich Erwerbs tätigen (nur die zahlen Rentenbeiträge) und Nichterwerbstätigen zuungunsten der Ersteren verändert hat. Zum einen wurde das Potenzial der Erwerbs fähigen nie auch nur annähernd ausgeschöpft – kenntlich an der in Deutschland noch heute relativ zu anderen Ländern niedrigen Frauenerwerbsquote. Zum anderen verminderten lange Ausbildungszeiten und die eine Zeit lang von der Industrie gewünschte (und staatlich subventionierte) Frühverrentung die beitragspflichtige Lebensarbeitszeit.
Vor allem aber hatte die alte Rechnung ein Geschenk nicht eingerechnet, das der Fortschritt uns allen beschert hat: das Geschenk einer enorm gestiegenen Lebenserwartung. Zu Bismarcks Zeiten erlebten nur wenige das Rentenalter. Heute ist es ohne Weiteres möglich, dass jemand dreißig Jahre in die Rentenkasse einzahlt und dafür dreißig Jahre oder länger Rente bezieht.
Adenauers Rentenkonzept war politisch gewollt. Es sprach und spricht also auch nichts dagegen, es einer veränderten Wirklichkeit anzupassen. Mit kürzeren Ausbildungszeiten, einem späteren Rentenbeginn und der Ausschöpfung vorhandener Ressourcen ist ein Anfang gemacht.
Es sagt viel über das Niveau des öffentlichen Diskurses aus, dass er sich eine Zeit lang lediglich auf die quasi biologische Seite des Problems beschränkte: die in Deutschland wie in anderen Industriestaaten niedrige Geburtenrate.
Lustvoll legte man Frauen »Kind statt Karriere« nahe, spekulierte darüber, warum ausgerechnet Akademikerinnen so wenig Nachwuchs bekämen – was das Verbot eines Universitätsabschlusses für Frauen nahelegte –, dachte laut über »Strafsteuern« für Kinderlose nach und impfte jungen Eltern die Vorstellung ein, just in ihrem aggressiv-missmutig durch die Gegend geschobenen Kinderwagen läge die »Zukunft Deutschlands«, nämlich die künftigen Beitragszahler in die Rentenkasse.
Kinderlose Steuerzahlerinnen wagten es besser nicht, auch nur anzudeuten, dass sie es sein würden, die dem künftigen Sprössling die Stütze bezahlen müssten, wenn aus ihm kein prächtiger Leistungsträger wird, was ja nicht ausgeschlossen ist. Denn ihnen wurde unverblümt eine schreckliche Strafe für ihren Egoismus in Aussicht gestellt: im Alter ohne die nötige Hüftoperation dahinsiechen zu müssen.
Was sind wir für ein seltsames Land. Über das Geschenk hohen Alters redet man hier selten, die Warnung vor der
»vergreisenden Gesellschaft« ist ja viel süffiger – jeder Spätablebende ein Sozialschmarotzer und potenziell teurer Pflegefall. 12 Der Krieg »Alt gegen Jung«, der auf dem Meinungsboulevard lustvolles Gruseln auslöste, ist eine Schimäre. Nicht nur war das Verhältnis zwischen den Generationen wohl noch nie so harmonisch wie heute. Nur selten müssen die Kinder für ihre Eltern sorgen. Umgekehrt profitiert manch junge Familie von der Freigebigkeit (und Freizeit) der Eltern. Es spricht auch viel dafür, dass die Situation sich weiter entspannt – der nötige Abschied vom Jugendkult in der Arbeitswelt dank der zunehmenden Nachfrage nach Fachkräften wird die Generationen einander wieder näherbringen und
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