Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
gibt es selten Frost, aber nachts wird es manchmal trotzdem recht kalt.
Während ich seinem regelmäßigen Atem und dem Regen lausche, der an die Fenster trommelt, schlafe ich ein.
Im Traum schwimme ich durch die Antarktis, um mich herum abgebrochene Eisberge. Die eisigen Türme ragen majestätisch über mir auf und sind von einer mörderischen Schönheit.
Ich höre Paige nach mir rufen. Hustend treibt sie im Wasser, sie kann sich kaum an der Oberfläche halten. Da sie zum Paddeln nur ihre Arme hat, weiß ich, ihr bleibt nicht viel Zeit. Ich schwimme auf sie zu, versuche verzweifelt, sie zu erreichen, doch die unbarmherzige Kälte verlangsamt meine Bewegungen, und ich vergeude fast all meine Energie, weil ich so stark zittere. Paige ruft nach mir. Sie ist zu weit weg, als dass ich ihr Gesicht sehen könnte, doch ihre Stimme ist tränenerstickt.
»Ich komme!«, versuche ich ihr zuzurufen. »Alles ist gut. Ich bin gleich da.« Doch ich bringe nur ein heiseres Flüstern heraus, das kaum zu meinen eigenen Ohren vordringt. Die Enttäuschung droht, mir die Brust zu sprengen. Ich schaffe es nicht mal, Paige zu beruhigen, sie zu trösten.
Plötzlich höre ich ein Motorboot. Es bahnt sich seinen Weg durch das Treibeis und rast auf mich zu. Meine Mutter ist auf dem Boot, sie steuert es. Mit ihrer freien Hand wirft sie wertvolle Überlebensausrüstung ins Meer und lässt sie ins eisige Wasser platschen. Dosensuppen und Bohneneintopf, Schwimmwesten und Decken, ja sogar Schuhe und Verbandsmaterial gehen über Bord und versinken zwischen den auf und ab hüpfenden Eisschollen.
»Liebling, du solltest wirklich deine Eier essen«, ruft meine Mutter.
Das Boot donnert geradewegs auf mich zu. Es wird nicht langsamer, sondern allenfalls noch schneller. Wenn ich nicht augenblicklich hier wegkomme, wird sie mich überfahren.
In der Ferne ruft Paige nach mir.
»Ich komme!«, will ich schreien, doch wieder bringe ich bloß ein krächzendes Flüstern hervor. Ich versuche, auf sie zuzuschwimmen, aber meine Muskeln sind so kalt, dass ich nur unkontrolliert um mich schlagen kann. Um mich schlagen und zittern, während das Boot meiner Mutter weiter auf mich zugerast kommt.
»Schhh«, flüstert mir eine sanfte Stimme ins Ohr.
Ich spüre, wie jemand das Sofakissen hinter meinem Rücken hervorzieht. Wärme hüllt mich ein. Wo vorher das Kissen war, umschließen mich jetzt starke Muskeln. Völlig erledigt registriere ich, wie sich männliche Arme um mich schlingen. Haut so weich wie eine Feder, Muskeln aus stählernem Samt. Die Berührung vertreibt den Albtraum und das Eis aus meinen Adern.
»Schhh.« Ein raues Flüstern an meinem Ohr.
Ich lasse mich in den Kokon aus Wärme fallen und mich vom Geräusch des Regens auf dem Dach in den Schlaf lullen.
Die Wärme ist weg, aber ich zittere nicht mehr. Ich rolle mich zusammen und versuche, so viel wie nur möglich von der Wärme in den Kissen zu halten. Wärme, die von einem Körper stammt, der nicht mehr da ist.
Ich öffne die Augen und wünsche mir im hellen Morgen licht sogleich, ich hätte es nicht getan. Raffe liegt auf seiner Seite des Sofas und blickt mich aus dunkelblauen Augen an. Ich schlucke und fühle mich plötzlich verlegen und ungepflegt. Na toll. Die Welt geht unter, meine Mutter ist irgendwo da draußen bei ein paar Straßengangs, die sich bekloppter denn je aufführen, meine Schwester wurde von Racheengeln gekidnappt, und ich mache mir Sorgen über mein fettiges Haar und darüber, ob ich vielleicht Mundgeruch habe.
Abrupt richte ich mich auf und schlage die Decke heftiger als nötig zurück. Ich raffe mein Waschzeug zusammen und eile zu einem der beiden Badezimmer.
»Dir auch einen guten Morgen«, sagt er träge. Meine Hand liegt schon auf der Türklinke zum Badezimmer, als er hinzufügt: »Falls es dich interessiert, die Antwort ist Ja.«
Ich bleibe stehen und habe Angst, mich umzudrehen. »Ja?« Ja, er war es, der mich die ganze Nacht im Arm gehalten hat? Ja, er weiß, dass es mir gefallen hat?
»Ja, du kannst mit mir kommen.« Er sagt es, als würde er seinen Entschluss schon wieder bereuen. »Ich bringe dich zu unserem Horst.«
11
In der Hütte gibt es noch fließend Wasser, nur leider kein warmes. Da ich nicht weiß, wann ich das nächste Mal wieder die Gelegenheit dazu habe, überlege ich, trotzdem zu duschen. Doch der Gedanke an eiskaltes Wasser, das mit voller Wucht auf mich niederprasselt, lässt mich zögern.
Schließlich ringe ich mich zu einer
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