Angelglass (German Edition)
förmlich über von Demonstranten. Verschiedene Gruppen haben sich unter ihren jeweiligen Protestbannern versammelt. Sie fordern die Reichen auf, für die Armen zu sorgen, Wälder zu pflanzen, keine Staudämme zu bauen, Nahrung herzustellen, Waffen zu verschrotten, die Windkraft zu nutzen und nicht nach Öl zu bohren. Die Polizei hat versucht, den Wenzelsplatz abzusperren, doch die riesige Anzahl von hinzuströmenden Demonstranten hat ihre Bemühungen sinnlos gemacht. Je weiter ich mich auf den Platz zubewege, desto schwieriger wird es, überhaupt von der Stelle zu kommen. Plötzlich bin ich in einem Nadelöhr gefangen; die Leute brüllen Parolen und schwingen ihre Plakate.
»Hey, seht mal da!«, ruft jemand. Ich lasse meinen Blick den ausgestreckten Fingern folgen und sehe hinüber zu einer Plakatwand an der Seite eines Hotelgebäudes. Sie ist weiß übermalt worden, und riesige, schreiend rote Buchstaben formen in der Mitte ein einziges Wort: DEVA .
»Ich wusste doch, dass er kommt!«, sagt irgendjemand. »Deva!«
Der Ruf hallt ein paarmal in der Menge wider und mündet schließlich in eine Art Sprechchor. »Deva! Deva! Deva! Deva!«
Direkt vor uns erkenne ich die schwarzen Mützen von ein paar Polizisten, die sich zu einer Kette zusammengeschlossen haben und die Menge zurückzudrängen versuchen. »Ihr Schweine!«, ruft eine Frau. »Warum beschützt ihr sie?«
Irgendetwas fliegt plötzlich über meinen Kopf hinweg und landet mit einem Krachen ein Stückchen weiter vorne in den Reihen der Polizisten. Ein weiterer Ruf ertönt, und die Menschenmassen verwandeln sich in einen einzigen lebenden Organismus, pressen sich weiter nach vorne und werfen Flaschen und Steine durch die Luft. Plötzlich höre ich einen lauten Pfiff, gefolgt von den Schreien der Leute, die sich an der vordersten Front bewegen.
»Faschistische Schweine!«, ruft ein Mann ganz in meiner Nähe. »Habt ihr in dieser Stadt noch immer nichts gelernt?«
Die Menge direkt vor mir teilt sich plötzlich. Eine Handvoll Demonstranten mit blutigen Gesichtern tritt den Rückzug an, während die Leute um mich herum ihnen aufmunternd auf die Schultern klopfen.
»Er hat mir mit seinem Schlagstock direkt einen auf die Nase verpasst«, sagt ein langhaariger junger Mann, dessen Gesicht blutverschmiert ist, mit einem Lächeln. »Aber ich hab dem Arschloch voll in die Eier getreten.«
Sirenen durchschneiden die Luft, und plötzlich scheint sich die Menge immer dichter um mich zu schließen. Weiter vorne treten noch mehr schwarze Mützen in Erscheinung. Ein Aufschrei geht durch die Massen, als die Polizisten anfangen, wahllos einzelne Demonstranten aus der Menge herauszuzerren. Ich sollte nicht hier sein. Ich darf nicht riskieren, festgenommen zu werden. Ich drehe mich um, schiebe mich an den Menschen vorbei und folge den Verletzten, die sich vom Platz wegbewegen. Als plötzlich Schreie ertönen und mich ein Wasserstrahl trifft, versuche ich, mir meinen Weg freizuboxen. Doch die Menschenmassen werden nur immer dichter, als alle plötzlich den riesigen Wasserwerfern zu entkommen versuchen, die mittlerweile mitten auf dem Wenzelsplatz postiert wurden. Vor mir gerät eine Frau ins Stolpern, fällt hin und läuft Gefahr, von der formlosen Masse aus Demonstranten überrannt zu werden. Ich helfe ihr auf und versuche sie mitzuzerren, während ich von den anderen förmlich fortgerissen werde. Nach ein paar panischen Augenblicken lichtet sich die Menschenmenge. Ich erkenne Cafés und Kneipen und habe plötzlich wieder genügend Freiraum. Schnell laufe ich in Richtung Altstädter Ring, fort von diesem drohenden Volksaufstand. Ich haste durch die Straßen und wage erst wieder Luft zu holen, als ich auf der Karlsbrücke stehe und in der Ferne die Sirenen und Sprechchöre höre. Die N15-Proteste haben begonnen.
Als ich zum Haus zurückkomme, stoße ich im Garten auf Petey, der einen einsamen Joint genießt. »Poutnik.« Er nickt mir zu und sieht mich aus rotgeränderten Augen an. Anscheinend hat er auch nicht viel geschlafen.
Ich setze mich neben ihm auf die Bank und muss mich zwingen, nicht auf diesen Streifen umgegrabener Erde unter dem Geisblattbusch zu schielen. Was immer John auch plant und wie immer seine Motive aussehen – er hat ein menschliches Leben beendet. Wie könnte ich demnach nicht gegen ihn sein?
»Ich hab hier ein bisschen meditiert und ein Gebet gesprochen«, sagt Petey.
»Worum hast du gebeten? Erfolg?«
Petey schüttelt den Kopf.
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